: Dionysos rauscht auch vorbei
Metamorphosen sind angesagt auf dem Theaterfestival von Epidaurus und Athen: Das Festival will internationaler und jünger werden. Dabei helfen ihnen wilde Tiere aus dem „Sommernachtstraum“ (Thomas Ostermeier und Constanza Macras) und die „Perser“, von Griechen und Türken gespielt
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Der Ort allein ist schon ein Schauspiel und der Blick in die Landschaft ein Ereignis. Das Theater von Epidaurus, einst für 14.000 Zuschauer gebaut, liegt in den Hügel des Peloponnes wie ein Versprechen: dass auch zweitausend Jahre nach der Bauzeit ein Faden der Empfindung zurückführen kann zu den Menschen aus der Antike. Dazu braucht es nicht mal eine Aufführung – die steinernen Ränge ummanteln einen so weiten Raum, dass die Vorstellungskraft hier befreit von allen Ablenkungen zu sich selbst zu kommen scheint.
So ist der Ort Anziehungspunkt und größter Konkurrent zugleich für die Aufführungen, die hier seit über 50 Jahren wieder stattfinden. Im Sommer bespielt das Festival von Athen und Epidaurus (130 Kilometer von Athen entfernt) den touristischen Anziehungspunkt, vornehmlich mit klassischen Stücken und treibt damit lebendigen Denkmalschutz. Einfach aber ist es nicht, sich in dieser Aura zu behaupten.
Wir (Journalisten aus Frankreich und Deutschland) sind eingeladen zu einer Aufführung der „Perser“ von Aischylus in einer Inszenierung von Theodoros Terzopoulos und dem Attis Theater. Die Schauspieler kommen aus Griechenland und der Türkei, und das allein schon gilt als politisches Statement. Die Premiere in Istanbul begleiteten Kulturpolitiker beider Länder. Der Text, eine lange Klage über einen verlorenen Krieg und den Verlust einer Macht, die starr und blind ihren eigenen Untergang herbeigeführt hat, wird in beiden Sprachen gesprochen – nein, er strömt in beiden Sprachen aus den geöffneten Mündern der 14 Männer, die völlig zum Medium geworden sind.
Die Gesten- und Körpersprache von Theodoros Terzopoulos ist ausdrucksstark, rhythmisiert, von großer Symmetrie, mit sparsamen symbolischen Akzenten. Einzelne Worte, wiederholt und wiederholt, rollen als Welle heran, besetzen den Raum und verebben. Hände vor dem Mund wollen die Sprache bremsen und können es nicht. Sie bohrt sich tiefer und tiefer in den Schmerz, man spürt bei jedem Ansetzen die Angst vor dem, was kommen wird. Was erzählt wird, ist größer als die Erzählenden selbst, ihr Wille, ihre Kraft. Mit roten Tüchern wischen sie den Boden und versuchen, sich vom Leib zu halten, was mit jedem Atemzug in sie eindringt. Man sieht die Spannung von Zwerchfell, Lungen und Bauch in der Atmung und im Austausch der inneren und äußeren Welt, man sieht, wie sich die Sprache in ihnen vorwärts kämpft.
Zweifellos passt eine solche Inszenierung in das Rund des Amphitheaters und weil sie eben auch über politisch brisante Grenzen führt, hat sie auch eine aktuelle Dimension. Und doch ist das Bündel beinahe zu perfekt geschnürt, kein anarchischer Rest stört die Produktion von Sinn. Als ob wir uns in der Identifikation mit einem Geist der Antike noch immer zu reinigen vermöchten.
Das Festival von Athen und Epidaurus will aber nicht nur das Kapital der Klassik nutzen. Ein neuer Festivalleiter, Yorgos Loukos, setzt auf mehr Internationalität und Verjüngung. Dazu gehört die Einladung vieler Tanztheaterproduktionen. Und die Einbeziehung von neuen Orten, wie einer leer stehenden Fabrik in einem runtergekommenen Industriegebiet auf dem Weg zum Hafen von Piräus.
So kam es, dass dort, in einer verlassenen Möbelfabrik, ein Stück von Thomas Ostermeier (Regisseur und Intendant der Berliner Schaubühne) und der Choreografin Constanza Macras Premiere hatte, koproduziert von dem griechischen Festival. Und man weiß nicht: Ist es der Einfluss der Umgebung oder Ergebnis der erstmaligen Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und der Choreografin, dass ihre Inszenierung wie ein dionysischer Rausch daherkommt.
Denn gemeinsam packen sie ein Spiel von der Verwandlung an, Shakespeares Sommernachtstraum. Die erste Verwandlung ist die der Schauspieler: als ob sie nur darauf gewartet hätten, endlich zu tanzen – und damit ist alles gemeint: zu strippen, zu schuhplattlern, sich andern in die Arme zu werfen und wegzurennen, als Ballerina, Biene und Elfe auf die Bühne zu kommen, waghalsig zu klettern und in die Tiefe zu springen. Die zweite Verwandlung ist die in Tiere, die das ganze Ensemble von Tänzern und Schauspielern durchläuft und selten sah man einem triebgesteuerten Geschehen von verliebten Hunden, betrunkenen Eseln und Katzen, die hinter dem Mikro wie hinter einer Maus herschleichen, so gerne zu. Es ist nicht allzu viel Text von Shakespeares Sommernachtstraum übrig geblieben, aber viel von den Motiven der Anziehung und Abstoßung, der Verfolgung und Verwechselung, der Entkoppelung von Liebe und Begierde, von Verstand und Trieb und der Sehnsucht, all das wieder zusammenzubringen.
Eine Theatermaske gibt den ersten Prolog, der von hohen Erwartungen an die Kunst und der Lust, sie zu hintertreiben, handelt – aber statt die Maske im Gesicht zu tragen, hat der Schauspieler sie sich über den Schwanz gestülpt, der nun aus dem Mundloch herausrüsselt. Das ist nicht bloß ein witziges, sondern auch ein punktgenaues Durchdringen der Codes, die für hohe Kunst stehen und doch immer von etwas anderem erzählen wollen.
Die Inszenierung ist narzisstisch: Die Darsteller lieben sich, aber sie lieben sich mit allen Fehlern und damit den ganzen Menschen. Es gibt keine idealistisch konstruierten Figuren, keinen Moment der Überhöhung – und damit bildet die Berliner Produktion tatsächlich einen weit entfernten Gegenpol zu der Tradierung der Klassik, von der man in Athen einfach nicht lassen kann.
Man braucht viele Taxis zu den Orten des Festivals und oft müssen die Fahrer nach dem Weg fragen. Verschiebungen in einer Kulturlandschaft, deren historischer Reichtum nicht zuletzt durch das Interesse der Tourismusindustrie lange Schatten wirft, sind eben nicht so leicht zu bewirken. Aber es macht Spaß, mit dem Festival (www.greekfestival.gr) der Arbeit an der Veränderung zuzuschauen und zwischen den Ruinen der Antike und der Gegenwart zu pendeln.