: Das Schmarotzerspiel
Die Deutschen sind vom Thema Sicherheit besessen. Dabei setzen die Eliten auf eine neue Tugend: Egoismus. Nach dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht
Zu Gast bei Einheimischen: Frank ist Professor, beamtet, unkündbar, gut besoldet. Zudem zahlt er in diverse Lebensversicherungen ein. Trotzdem wirkt dieses sorgenfreie Leben nicht sorglos. Frank scheint sich vage bedroht zu fühlen. Warum müsste der 42-Jährige sonst in jedem Privatgespräch betonen, wie wohlhabend seine Heimatstadt im Süden Deutschlands ist? Er hat es nachgesehen; er lebt im fünftreichsten Kreis der Republik. Lebensstelle, Lebensversicherung, geschickt gewählter Lebensmittelpunkt – so hofft er dem allgemeinen Niedergang zu entkommen, den er in der Bundesrepublik konstatiert. Wenn Merkel vom „Sanierungsfall“ Deutschland spricht, dann kann Frank nur nicken. Einer seiner Freunde hat gerade Gold gekauft.
Mitleid hat Frank nicht. Sobald er Berlin besucht, fallen ihm die Bettler auf. „Solche sieht man bei uns nicht“, sagt er dann, und die Befriedigung ist nicht zu überhören, dass er es geschafft hat, Armut zu vermeiden. Frank hat die Spaltung der Gesellschaft nicht nur akzeptiert – er glaubt auch noch, zu Recht davon zu profitieren. Der junge Professor steht für einen sozialen Wandel: Egoismus wird zur Tugend, wenn man sich nur an die akzeptierten Karrierewege hält.
Frank sieht eine moderne Gesellschaft in etwa so, wie sich die Zeugen Jehovas das Paradies vorstellen. Die Sekte hat ermittelt, dass im Himmel nur genau 144.000 Plätze frei sind. Deswegen müssen die Jehova-Treuen obskure Blättchen namens Der Wachtturm verteilen, damit sie am Weltenende garantiert zu den auserwählten „Geistgesalbten“ zählen. Nur Fleiß und Gehorsam werden belohnt, das lernen die Sektenmitglieder früh. Die säkulare Wettbewerbsgesellschaft funktioniert genauso, wenn man sie wie Frank interpretiert. In seinem Weltbild gelangt nur ins diesseitige Paradies, wer sich anpasst und den Lebenslauf pflegt.
Frank ist nicht der Einzige, der seine leistungsbereite Bravheit honoriert sehen will. Wenn jetzt schon wieder die Ärzte streiken, dann zeigt sich viel Enttäuschung: Immer sind sie folgsam gewesen, haben den Numerus clausus geschafft, haben im Studium gebüffelt, haben den Chefarzt ertragen, haben Nachtdienste geschoben und akzeptiert, dass viele Fachärzte und vor allem die älteren Kollegen mit eigener Praxis so viel mehr verdienen als sie. Und dieses konformistische Leiden soll jetzt nicht mit dem Paradies der Höchstbezahlung belohnt werden? Was für eine Frechheit der Gesellschaft! Man ist doch Elite.
Diese elitäre Selbstüberschätzung ist nicht nur bei Ärzten und Professoren verbreitet, sondern inzwischen glauben die meisten Deutschen an das seltsame Paradox, dass es die Gesellschaft schon belohnen wird, wenn man egoistisch ist. Das zeigt sich momentan am deutlichsten bei der Altersvorsorge. Das Misstrauen gegen die Solidarität sitzt tief. „Der Staat“ ist ein Schimpfwort und stattdessen wird auf die „Privatisierung“ vertraut. In Umfragen der Universität Mannheim ergab sich, dass 85 Prozent der Deutschen ihre gesetzliche Rentenversicherung am liebsten halbieren würden, um das Geld stattdessen selbst zu investieren. Plötzlich wird der spöttische Spruch ernst genommen, dass an alle gedacht ist, wenn nur jeder an sich selbst denkt.
Soziale Strukturprobleme werden damit individualisiert, wie die aktuellen Diskussionen um Hartz IV vorführen: Wer ohne Job dasteht, muss selbst schuld sein. Die Gesellschaft wird allseits zur Ich-AG. Dieser Paradigmenwechsel ist viel dramatischer, als es im Alltagsdiskurs der Politik erscheint. Denn das Bismarck’sche Sozialsystem ist das Einzige, was zwei Weltkriege und zwei Inflationen in den letzten hundert Jahren überlebt habt. Die Deutschen assoziieren Sicherheit mit ihren Renten- und Krankenkassen. Noch sind viele hoffnungsfroh, dass sie diese gewohnte Geborgenheit privatisieren können. Doch die Erwartung trügt, und es ist nicht absehbar, ob sich die Bundesbürger politisch radikalisieren werden, sobald sie merken, dass ihnen die letzte Sicherheit abhanden kommen wird.
Und viele werden sich unsicher fühlen. Allerdings sind die einschlägigen Statistiken bisher nur auf den hinteren Wirtschaftsseiten in den Zeitungen zu finden. So erschien letzte Woche die aktuelle Erhebung, wie viele Millionäre es weltweit gibt. Sie stammt von der Investmentbank Merrill Lynch, die naturgemäß wissen will, wer ihre potenziellen Kunden sind. Das Resultat für Deutschland fiel ernüchternd aus: Obwohl die Börsen boomen, stieg die Zahl der Millionäre 2005 nur um 0,9 Prozent auf 767.000. Offensichtlich sammelt sich Vermögen dort, wo schon Vermögen ist. „Die Reichen werden reicher, wenige neue kommen hinzu“, lautete denn auch das Fazit der Studienautoren. Gleichzeitig konstatieren sie, dass die Kluft zwischen den Reichsten und dem Bevölkerungsdurchschnitt immer größer wird. Pointiert formuliert: Die Mehrheit der Deutschen spart immer mehr und wird dabei immer ärmer. Es ist ein Wunschtraum, dass man nur brav zurücklegen muss, um als Rentner prassen zu können.
Aber selbst wenn man Vermögen besäße: Geld lässt sich nicht essen. Diese Erkenntnis ist zwar platt, hat aber weitreichende Folgen, die gern übersehen werden. Wer heute Geld oder auch Aktien besitzt, verfügt zunächst nur über einen virtuellen Anspruch, wie die Waren zu verteilen sind, die in der Zukunft produziert werden. Das ist hochpolitisch.
Die Deutschen neigen dazu, den Schutz des Eigentums für heilig zu halten, weil Grundgesetz und Verfassungsgericht dafür einstehen. Doch diese Bastionen sind so virtuell wie das Geld, das sie verteidigen sollen. Der Schutz des Eigentums gilt nur so lange, wie ihn große Teile der Bevölkerung gewährleisten wollen. Es ist ein Akt der Solidarität, wenn die Gesamtgesellschaft akzeptiert, dass individuelle Ansprüche gelten. Sollten sich immer mehr Menschen ausgegrenzt fühlen, werden sie nicht mehr einsehen, warum sie die Interessen der Ausgrenzer noch achten sollen.
Das Schmarotzerspiel lässt sich nämlich beidseitig spielen: Momentan behaupten die Eliten, dass die Armen die Gesellschaft aussaugen. Doch kann diese Deutungshoheit schnell dahin kippen, dass die Reichen als Parasiten erscheinen.
Für Gesellschaften ist absolut zentral, wen sie als Schmarotzer definieren. Das bestätigte erneut eine Studie, die den Altruismus erforscht hat und jetzt in Science publiziert wurde. Überraschendes Ergebnis: In allen 15 Test-Gesellschaften auf fünf Kontinenten wurde altruistisches Verhalten erzwungen, indem die Gesellschaft bereit war, die Schmarotzer selbst dann abzustrafen, wenn dadurch alle einen Verlust erleiden. Übersetzt: Professoren können sich nicht darauf verlassen, dass sie jeder für so wichtig hält, dass ihre Privilegien unantastbar sind.
Frank sollte also nicht vor den Armen fliehen – sondern fordern, dass sie echte Chancen erhalten. Und zwar nicht aus Geberlaune, sondern aus purem Eigennutz. Es ist die beste Lebensversicherung, dafür zu sorgen, dass auch die anderen sicher leben können. ULRIKE HERRMANN