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Archiv-Artikel

Kein Job, kein Geld, keine Bleibe

Langzeitarbeitslosen droht bei Arbeitsverweigerung die Streichung aller Leistungen. Eine Kriegserklärung gegen den sozialen Frieden, sagt die Linke

VON ULRIKE WINKELMANN

Über Nacht hat die große Koalition das Gesetz zur „Fortentwicklung“ der Arbeitsmarktreform Hartz IV noch einmal verschärft. Gestern wurde im zuständigen Bundestagsausschuss verkündet, dass die ohnehin zur „Fortentwicklung“ vorgesehenen Sanktionen gegen arbeitsverweigernde Arbeitslose nun noch einmal zugespitzt werden.

Aus Protest gegen das überfallartige Vorgehen der großen Koalition zog die Linksfraktion gestern früh aus dem Ausschuss aus, während die zurückgebliebenen Grünen hilflos protestierten. Heute soll das Gesetz im Bundestag mit Unions- und SPD- Mehrheit beschlossen werden.

Das „Fortentwicklungsgesetz“, das im Frühjahr noch „Optimierungsgesetz“ hieß, zieht mehrere Dutzend Stellschrauben im seit Anfang 2005 geltenden Hartz-IV-Gesetz nach. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die Kontrollen der Empfänger von Arbeitslosengeld II, ihres Arbeitswillens und ihrer Vermögensbestände. Gegenstand der neuerlichen Verschärfung sind nun vor allem die Sanktionen gegen Arbeitslose, die ein Arbeits- oder ein Maßnahmenangebot nicht wahrnehmen.

Künftig können dem, der innerhalb eines Jahres dreimal ein Angebot verweigert, die Leistungen gestrichen werden – und zwar der Regelsatz von 345 Euro ebenso wie die Mietzuschüsse. Die Koalition eröffnet somit erstmals den Weg zum kompletten Leistungsentzug: Die 100-Prozent-Strafe für Arbeitsunwillige.

Zwar sieht auch das geltende Gesetz die theoretische Möglichkeit einer 100-Prozent-Kürzung vor: Diese träte ein, wenn ein Erwachsener viermal binnen drei Monaten ein Arbeitsangebot ablehnt und sich dazu so aufführt, dass ihm der Fallmanager auch noch die Miete kappt. Schon allein mangels Angeboten und aufgrund der Bearbeitungsfristen ist solch ein Fall bislang aber unbekannt. Auch die Ursprungsfassung des Fortentwicklungsgesetzes sollte schon mehr Strafen ermöglichen. Doch war dort nicht von einer 100-Prozent-Kürzung die Rede.

Die Streichung des kompletten Regelsatzes kannten bislang nur jugendliche Arbeitsunlustige – und zwar bei erstmaliger Verweigerung. Ihre Vermieter bekamen dann allerdings noch die Miete überwiesen. Das Fortentwicklungsgesetz kappt nun auch für junge Leuten bis 25 den Regelsatz wie die Mietzuschüsse komplett – beim zweiten Mal, ohne Pflicht zur Vorwarnung.

Neu im Gesetz ist auch eine Art Residenzpflicht für Arbeitslose. Wer sich nicht in Reichweite seines Arbeitsvermittlers aufhält, hat keinen Anspruch mehr auf Leistungen. Auch bislang waren Auslandsaufenthalte für Arbeitslose eigentlich nicht vorgesehen oder mussten abgesprochen werden. Durch die Klarstellung der Sanktion und die verstärkten Anwesenheitskontrollen dürfte es jedoch künftig regelmäßig zur Streichung des ALG II kommen.

Die zusätzliche Sanktionsverschärfung geht maßgeblich auf das Konto der Union, die sich damit eine Forderung von Arbeitgebern und Kommunen zu Eigen machte. Die kommunalen Spitzenverbände klagen über steigende Wohnkosten und hoffen auf Einsparungen durch die Sanktionen. Doch verteidigte auch der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Fraktion gestern das Vorgehen der großen Koalition. „Es geht nicht darum, Sanktionen zu verschärfen, sondern darum, mit der Regelung die Erfahrungen der Fallmanager aufzugreifen“, sagte Klaus Brandner zur taz. Die Arbeitsvermittler hätten insbesondere das Verhalten von jungen Leuten problematisiert sowie darauf hingewiesen, dass Sanktionen nur greifen könnten, wenn der Bezugszeitraum auf ein Jahr ausgedehnt würde.

Dem widersprach die Grünen-Arbeitsmarktpolitikerin Brigitte Pothmer. Das Problem der Arbeitsvermittler sei nicht der Sanktionskatalog, sondern eher die Frage, was ein Arbeitsloser davon hat, in Maßnahmen gesteckt zu werden, wenn es im Anschluss kein Jobangebot gebe. Die „Residenzpflicht“ sei „absurd“, weil doch der Bundesrechnungshof gerade festgestellt habe, dass es die Kommunen und die Arbeitsagenturen seien, die in der Kommunikation mit den Arbeitslosen vesagten. Ebenso wie die 100-Prozent-Kürzung sei die Residenzpflicht eine „hysterische Reaktion auf eine Debatte, de sich völlig von den empirischen Erkenntnissen gelöst hat“, sagte Pothmer zur taz.

Die Linksfraktion erinnerte daran, dass schon bei der Debatte um die aktuellen Sanktionsmöglichkeiten die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines kompletten Leistungsentzugs unbeantwortet blieb. Der Fraktionsvize Klaus Ernst erklärte: „Nach dem Motto ‚Wer nicht arbeitet, soll weder essen noch wohnen‘ entzieht die Koalition dem Bürger die verfassungsgemäße Garantie einer menschenwürdigen Grundsicherung, anstatt sie ihm zu gewähren. Das ist in einer Situation, da sieben Millionen Arbeitsplätze fehlen, eine Kriegserklärung gegen den sozialen Frieden im Land.“