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Archiv-Artikel

Ein Massaker wie das in My Lai KOMMENTAR VON ADRIENNE WOLTERSDORF

Was ist neu an einer Nachricht, dass in der irakischen Stadt Haditha 24 Menschen getötet wurden? So viele sterben täglich, getötet von den Bomben der Aufständischen oder bei Schießereien mit US-Soldaten. Doch das Massaker von Haditha, bei dem offenbar eine Hand voll US Marines aus Rache für einen getöteten Kameraden wahllos Männer, Frauen und Kinder ermordeten, ist keine Nachricht unter vielen.

Die US-Regierung hat die Ereignisse vom 19. November 2005 noch nicht vollständig recherchiert, ein Untersuchungsbericht wird erst in einigen Wochen erwartet. Doch schon jetzt ist klar, dass dieses Massaker und seine Vertuschung die Glaubwürdigkeit der USA, die einen Krieg für die Demokratie und gegen den Terrorismus zu führen behaupten, noch stärker infrage stellen wird als der Skandal um die Folterungen im Gefängnis Abu Ghraib und die Inhaftierungen von Guantánamo. Denn wie erklärt eine Besatzungsmacht, die einen barbarischen Diktator hinwegfegt, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen, dass sie selbst Mord und Vertuschung praktiziert? Nichts weniger scheint in Haditha passiert zu sein: Hasserfüllt richten junge Soldaten Zivilisten hin, die Armee inspiziert das Massaker – und schweigt, zahlt den überlebenden Verwandten stillschweigend Entschädigung und behauptet öffentlich, alles sei ein Unfall gewesen. Dahinter steckt der Wille höchster militärischer Stellen, die Geschichte nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Die Parallele zum US-Massaker im südvietnamesischen Ort My Lai im Jahre 1968 ist unübersehbar. Als es ein Jahr später aufflog, wurde es zum Wendepunkt der öffentlichen Unterstützung für den Krieg in Vietnam. Die Neuordnung des Irak, ein lang gehegter Traum der Neokonservativen um Bush, ist damit erneut diskreditiert.

Das gilt auch für das Nachbarland, wo der Krieg gegen den Terrorismus begann. Es beruht zwar auf reinem Zufall, dass zeitgleich mit der Entdeckung des Massakers neue Unruhen in Afghanistan ausbrachen, die sich an der Selbstherrlichkeit der dortigen US-Besatzer entzündeten. Aber US-Präsident Bush wird nun mehr Mühe als je haben, seinen Feldzug gegen den Iran auch noch moralisch zu begründen.