: Vom Stolz der Türsteher
In Bulgarien könnte ein schlechtes EU-Urteil zum Sturz der Regierung führen. Denn das Volk will sich nicht „erniedrigen“ lassen
AUS SOFIA BARBARA OERTEL
Die Karikatur in der bulgarischen Wochenzeitung Kapital bringt die Stimmung perfekt auf den Punkt: Zitternd vor Angst stehen die drei Chefs der Regierungsparteien, Simeon Sakskurbogotzki, Sergei Stanischew und Ahmed Dogan, nebeneinander und halten die Hände schützend vor das Gemächt. Über ihren Köpfen fliegt eine Taube – im Schnabel einen Brief aus Brüssel. Besagter Brief ist der nächste Fortschrittsbericht der EU-Kommission zu Rumänien und Bulgarien, den Erweiterungskommissar Olli Rehn heute Nachmittag in Straßburg vorstellt.
Auf der Grundlage dieses Berichts wird entschieden werden, ob beide Länder zum 1. Januar 2007 oder erst ein Jahr später der EU beitreten und ob dieser Beitritt mit bestimmten Auflagen verbunden sein wird. Nachdem in der letzten Woche Berichte für Aufregung gesorgt hatten, wonach die Kommission Sofia und Bukarest noch etwas zappeln lassen und den Beitrittstermin wohl erst im Herbst festlegen werde, meinen viele bulgarische Zeitungen schon jetzt zu wissen, wohin die Reise geht: Die Entscheidung für einen Beitritt 2007 wird positiv sein, aber unter Auflagen wie etwa dem Ausschluss Bulgariens von europäischen Strukturhilfen, schreibt Kapital und listet akribisch die Felder auf, in denen Sofia dringend nacharbeiten muss. Dazu gehören vor allem massive Defizite beim Kampf gegen Kriminalität und Korruption sowie eine unzureichende Kontrolle bei der Verteilung von EU-Regionalhilfen.
Cohn-Bendit sagt „Nein“
Der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit, mit zwei Fraktionskollegen gerade auf Sofia-Erkundungstour in Sachen Korruption und organisierte Kriminalität, fühlt sich sichtlich unbehaglich. „Jetzt geht es doch nur noch darum, eine Entscheidung innerhalb einer falschen Entscheidung zu treffen“, sagt er. Zwar werde eine Mitgliedschaft das Land politisch stabilisieren. Dennoch gelte: „Bulgarien ist definitiv nicht reif für einen EU-Beitritt.“
Damit spricht Cohn-Bendit aus, was ohnehin alle wissen – auch Bulgariens Regierungschef Sergei Stanischew. Der Sozialist spielt mittlerweile perfekt die Rolle des selbstbewussten Schülers, der seine Leistungen angesichts der bevorstehenden Versetzung als zu schlecht benotet sieht. Fast wie auf Knopfdruck referiert der 40-Jährige, vor sich auf dem Tisch einen vergoldeten Designerfüller, ausschweifend die Bemühungen seiner Regierung. So seien seit dem Amtsantritt im vergangenen August rund 60 Gesetze im Bereich Inneres verabschiedet, die Verfassung geändert, das Strafrecht novelliert und ein neuer Generalstaatsanwalt gewählt worden. Gegen neun Parlamentsabgeordnete werde nach Aufhebung ihrer Immunität wegen Korruption ermittelt. „Die Bulgaren haben für die Reformen einen hohen Preis bezahlt. Der Motor für die Reformen war immer die EU-Mitgliedschaft“, sagt Stanischew. Eine Verschiebung des Beitritts würde die Menschen entmutigen und denjenigen Kräften in die Hände spielen, die ohnehin kein Interesse an eindeutigen Regeln hätten.
Und ein „Ja, aber“, also Auflagen in Form von Schutzklauseln? „Das wäre keine gute Lösung“, sagt Stanischew und lächelt viel sagend. „Würde Bulgarien der Zugang zum gemeinsamen Markt jetzt erst einmal verwehrt, würde das ausländischen Investoren weitaus größere Probleme bereiten als uns.“
Doch sosehr sich der Regierungschef auch um Contenance bemüht – der Schein trügt. Die Nerven der Regierung liegen blank, vor allem seit Rumänien in Brüssel als der reformfreudigere Kandidat gilt. Schon spekulieren bulgarische Medien über eine Kabinettsumbildung oder gar ein vorzeitiges Ende der ohnehin fragilen Koalition aus der Nationalen Bewegung Simeons II., den Sozialisten und der Bewegung für Rechte und Freiheit – der Vertretung der ethnischen Türken.
Gute Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz darf sich vor allem der sozialistische Innenminister Rumen Petkow machen. Als der deutsche Rechtsexperte Klaus Jansen im Auftrag der EU unlängst eine wenig schmeichelhafte Bewertung der bulgarischen Kriminalitätsbekämpfung abgab, kanzelte Petkow den Bericht kurzerhand als „voreingenommen und übertrieben“ ab. Zu allem Überfluss haben die Ermittlungsbehörden seit Mitte vergangener Woche zwei neue Auftragsmorde am Hals: Am Mittwoch wurden der bulgarische Geschäftsmann Ivo Markow in einer Sofioter Tiefgarage erschossen und fast zeitgleich der türkische Geschäftsmann Javus Kapanoglu in einer Erholungsanlage in Dolna Banja erstochen.
Mit Unterstützung Stoibers
Doch nicht nur Brüssel, sondern auch die Bulgaren selbst beginnen an der Kompetenz ihrer Regierung zu zweifeln. Laut einer Umfrage von Anfang Mai bewerten 66,9 Prozent der Befragten die Tätigkeit der Regierung als negativ. Demgegenüber erfreut sich Bojko Borrisow, seit 2005 Bürgermeister von Sofia, wachsender Beliebtheit. Der breitschultrige Mann vom Typ Türsteher, mit rasiertem Kopf und in Lederjacke, empfängt im Konferenzzimmer der Bürgermeisterei. Borrissow kaut Kaugummi, starrt vor sich auf den Tisch und knetet seine Finger. Noch bevor der Expolizeichef und Generalsekretär im Innenministerium anfängt zu sprechen, ist klar: Das ist einer, der nicht lange fackelt. „Wir brauchen Neuwahlen“, sagt er, „es ist doch lächerlich, dass die alten Kommunisten Bulgarien regieren. Sie haben das Land in den Warschauer Pakt geführt und wollen es jetzt in die EU bringen.“ 16 Jahre Demokratie hätten keinerlei Resultate gebracht, das Justizsystem funktioniere so schlecht wie eh und je. „Deshalb soll die EU kompromisslos sein, was die Erfüllung unserer Verpflichtungen angeht. Aber sie soll die Politiker bestrafen, nicht die Menschen. Die Bulgaren haben es nicht verdient, so erniedrigt zu werden“, sagt Borrisov.
Vor kurzem hat der Law-and-Order-Mann, der vor allem auch gegen die Regierungspartei der türkischen Minderheit zu Felde zieht, die Bewegung „Gerb“ gegründet. Freundliche Unterstützung kommt dabei aus Bayern, wo Borrissow letzte Woche Edmund Stoiber traf. Gerb setzt auf Business, will die demokratische Entwicklung in Bulgarien vorantreiben und die EU-Integration erleichtern, wie Borrisow erläutert. Jüngsten Umfragen zufolge käme Gerb bei Wahlen auf 12 bis 13 Prozent. 20,2 Prozent sähen Borrisow gerne als Kandidaten bei den Präsidentenwahlen im Herbst.
Offensichtlich ist bei vielen Bulgaren eine Schmerzgrenze erreicht. Und Boiko Borrissow trifft genau den Ton: knallhartes Durchgreifen im Verbund mit Streicheleinheiten für die durch Dauerkritik aus Brüssel gebeutelte Volksseele. So schreibt die Zeitung Novinar über die erwartete scharfe Kritik in den Fortschrittsberichten: „Wir sind klein, aber ein stolzes Volk und würden so eine Erniedrigung nicht vergessen.“