: Rat der Toleranzwächter
Die Wertedebatte des „Bündnisses für Erziehung“ ist nutzlos. Stattdessen sollten lieber gleiche Rechte, gleiche soziale Chancen und gleiche Bildungschancen geschaffen werden
Krisen, Skandale und schwere Verbrechen zeitigen in regelmäßigen Abständen Wertedebatten. Stets werden dann „alte“ Werte, eine verbesserte Wertevermittlung oder verschärfte Werteorientierung als probate Hausmittel angeboten. Nun versuchen es damit – im Nachhall des Alarms von Berliner Hauptschullehrern – Ministerin Ursula von der Leyen, Bischöfin Margot Käßmann und Kardinal Sterzinsky. Ihre Parole: „Bündnis für Erziehung“. Das erinnert an die Kampagne „Mut zur Erziehung“ von 1978, mit der konservative Recken wie Hermann Lübbe schon vor der „geistig-moralischen Wende“ die 68er beerdigen wollten.
Der Appell an Werte wird jedoch unterschätzt, deutet man ihn nur als Ausdruck der Ohnmacht von verunsicherten konservativen Krisenmanagern. Es geht um entschieden mehr: Wertedebatten verschleiern die Ursachen von Krisen, Skandalen und Verbrechen. Wertedebatten sind so sinnvoll und so nützlich wie Baldriantropfen gegen Unrecht und Erniedrigung.
Ministerin von der Leyen begann ihre Kampagne für „christliche Grundwerte“ im Namen von „Gemeinsinn, Solidarität, Toleranz, Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe“. Abgesehen davon, dass diese fünf Werte ausgesprochen wenig exklusiv Christliches aufweisen und maßgeblich aus jüdischen und griechisch-heidnischen Wurzeln hervorgehen, lässt sich am Begriff Toleranz zeigen, dass er schon historisch nicht für eine solche Kampagne taugt.
Das Problem der Toleranz war zunächst eines der katholischen Kirche, später der beiden christlichen Großkirchen und des Staates. Der Kirchenvater Augustinus (354–430) verstand die Duldung (tolerantia) als Grundtugend. Christen und Kirche sollten Böse, Ungläubige, Heiden, Juden und Sündige tolerieren. Nur für spezielle Fälle – etwa die Gefahr einer Kirchenspaltung – sah Augustinus auch gewaltsame Mittel (terror) vor, um die Einheit zu wahren. Aber schon im Hoch- und Spätmittelalter forderte die Kirche die politische Unterstützung seitens der Obrigkeit bei der Verfolgung und Bestrafung von Ketzern, Heiden, Juden, Atheisten. Diese Praktiken, die auch Luther befürwortete, führten nicht zum Frieden, sondern wirkten wie Brandbeschleuniger für Denunziation, Verfolgung und religiös motivierte Kriege.
Exemplarisch mit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) und dem Edikt von Nantes (1598) erkannten die vernünftigeren unter den weltlichen Gewalten, dass sie sich in Sackgassen locken ließen, wenn sie sich zum Schwert von Kirchen und Glauben machten. Ohne dass in diesen beiden Texten explizit von Toleranz die Rede war, versprachen deutsche Herrscher mit Kaiser Karl V. an der Spitze und der französische König Henri IV., beide Religionen im Rahmen gewisser Grenzen zuzulassen.
Als ab dem 18. Jahrhundert die politische Herrschaft den absolut herrschenden Monarchen entrissen wurde und an die Verfassungs- und Nationalstaaten überging, wurden Religions- und Gewissensfreiheit sowie die mehr oder weniger strikte Neutralität des Staates zu rechtlichen Garantien für Gruppen und zu Grundrechten der Einzelnen. Religiös motivierte Bürgerkriege sollten damit ebenso unmöglich werden wie die staatliche Verfolgung von Menschen aus Glaubensgründen. Kirchen und Bürger wurden auf Toleranz in Religionsfragen eingeschworen. Seit der Aufklärung und bis heute erwies Toleranz sich immer als vielgesichtig schillerndes Gebilde, das achselzuckendes Desinteresse ebenso abdeckt wie augenzwinkernde Kumpanei.
Heute über Toleranz als Wert zu diskutieren, ist naiv und der Problemlage völlig unangemessen. Das billige Bekenntnis zu Toleranz hat sich in ein kleinliches Regime der parteipolitisch orchestrierten Intoleranz verwandelt, sobald es um arme, nichtweiße und nichtchristliche Menschen geht, die egalitären Zugang zu Wohnungen, Bildung und Arbeit suchen. In den Dimensionen von „Werteorientierung“ oder „Würdeerfahrung“ (Bischöfin Käßmann) verschwindet das wirkliche Problem. Unter den Bedingungen rechtsstaatlicher Demokratie geht es aber darum, dass die dominierenden Gruppen der Gesellschaft bereit sind, allen Einwohnern – In- wie Ausländern, Früh- wie Späteingewanderten – gleiche Rechte, gleiche soziale Chancen und gleiche Bildungschancen zu bieten.
Im Gegensatz zur vordemokratischen frühen Neuzeit muss die Mehrheit heute ihr Verhalten gegenüber Minderheiten von bloßen Versprechen, sie zu tolerieren, auf rechtlich anerkannte und einklagbare Ansprüche umstellen. Eine solche rechtlich-politische und moralische Einstellung gegenüber Fremden heißt im sozialphilosophischen Jargon Universalismus. In diesem rechtsstaatlich-demokratisch und menschenrechtlich gestalteten Universalismus sind auch die legitimen Ansprüche der Mehrheit gegenüber den Eingewanderten und Minderheiten enthalten. Die Mehrheit muss sich deshalb weder mit Gesinnungstests noch mit Sprachprüfungen oder Leitkultur-Tauglichkeitshürden für Einwanderer und andere Minderheiten absichern.
Ein rechtsstaatlich-demokratisch fundierter Universalismus – wie er im Horizont von Jürgen Habermas’ „Faktizität und Geltung“ (1992) skizziert wurde – beruht nicht auf Werten wie Toleranz, sondern verteilt Rechtsansprüche und egalitäre Zugangschancen zu Wohnung, Bildung und Arbeit. Rechtsansprüche sind von allen Einwohnern, unabhängig von ihrer Herkunft, Sprache und Kultur, einklagbar. Beteuerungen von „Gemeinsinn, Solidarität, Toleranz, Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe“ bleiben dagegen oft reine Lippenbekenntnisse.
Rechtlich-demokratisch begründeter Universalismus muss gegenüber religiösen, ethnischen und anderen Besonderheiten sowie sozialen Ungleichheiten sensibel bleiben und flexibel handeln. Dadurch kann er ein solides Fundament legen für ein gesellschaftliches Zusammenleben von Individuen verschiedener Herkunft, Tradition, Religion und Bildung.
Was heißt das praktisch? Mädchen, die Kopftücher tragen, werden anders behandelt also solche, die im Namen von religiösen Bräuchen beschnitten, also verstümmelt werden. Ein rechtsstaatlich-demokratisch fundierter Universalismus weiß zu unterscheiden zwischen Kleiderordnung und Körperverletzung. Statt über „Parallelgesellschaften“ und „Migrationshintergründe“ zu schwafeln, muss die Schule auf unterschiedliche Lernvoraussetzungen endlich mit einem differenzierten, Defizite kompensierenden Lehrangebot reagieren, um Chancengleichheit zu gewähren.
Der Universalismus will nicht alle Differenzen zwischen Menschen einebnen. Und er tendiert nicht dazu, alles zu tolerieren. Gleiche Rechte, egalitäre Chancen in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt dienen der Integration bunter Gesellschaften. Toleranzversprechen und Toleranzappelle sind bestenfalls gut gemeint, meist sogar nur Beruhigungstropfen für selbstgerechte und vernagelte christlich-abendländische Gesinnungsathleten.
RUDOLF WALTHER