: Die neue Ruhe von Diyarbakir
AUS DIYARBAKIR JÜRGEN GOTTSCHLICH
Wer von Diyarbakir einen guten Eindruck bekommen will, sollte sich der Stadt von Osten nähern. Schon von weitem sieht man dann die grandiose Stadtmauer. Majestätisch umschließt der schwarze Basaltring die Kurdenmetropole im Südosten der Türkei. Die Mauer, die längste und inzwischen auch wieder intakte Stadtumfassung im mesopotamischen Raum, ist das Wahrzeichen Diyarbakirs. Malerisch breiten sich davor die grünen Felder zwischen dem Tigris und den Stadttoren aus. Obwohl erst Mitte April, ist es schon sehr heiß. Überall sind Bauern am Werkeln. Auf den Feldern am Fluss wachsen die berühmtesten Wassermelonen der Türkei, sie sehen aus wie riesige Rugbybälle und können bis zu 15 Kilo schwer werden.
Wer die Stadt aber betritt, dem wird schlagartig klar, dass Diyarbakir eine Mogelpackung ist. Hinter den restaurierten Mauern liegt keine pittoreske Stadt, sondern eine Ansammlung von Häusern – entweder die heruntergekommenen Reste eines ehemals orientalischen Sukhs oder notdürftig hochgezogene Neubauten der billigsten Sorte. Dazwischen ein paar wenige architektonische Kleinode, etwa die Karawanserei, Diyarbakirs älteste Moschee und ein paar schöne Ecken im Basar.
Natürlich gibt es in der Altstadt noch ein paar weitere Sehenswürdigkeiten, doch nach denen muss man lange suchen – hinter hässlichen Betonmauern oder Müllplätzen. Von den schweren Auseinandersetzungen, die die Stadt erst kürzlich erschüttert haben und bei denen zehn Menschen getötet wurden, ist hingegen nichts mehr zu sehen. Die Banken haben ihre eingeschlagenen Fensterfronten reparieren lassen, und bei den meisten anderen Häusern kann man den Unterschied zwischen Verfall oder mutwilliger Zerstörung eh kaum erkennen.
Ein Teil der Geschäfte ist zwar noch geschlossen, aber auch in denen, die geöffnet haben, herrscht nicht gerade Hochbetrieb. Die meisten Händler sitzen draußen in der Sonne und sehen nicht aus, als würden sie demnächst Kunden erwarten. Auf den ersten Blick drängt sich auf, was später in allen Gesprächen vor Ort bestätigt wird: Diyarbakir ist eine Stadt ohne Arbeit.
Eine Stadt unter Spannung
Schon am Vormittag sind die Cafés voll von jungen Männern, die den Rest des Tages vor einem Glas Tee verbringen und darauf warten, dass vielleicht etwas passiert, was die Monotonie ihrer Tage durchbricht. Bevölkerungswachstum, Landflucht und die Vertreibungen durch den schon 15 Jahre andauernden Krieg der PKK gegen die Armee, von dem praktisch jede kurdische Familie im Südosten auf die ein oder andere Weise betroffen ist, haben die Bevölkerungszahl von Diyarbakir in gut einem Jahrzehnt von 300.000 auf über eine Million Menschen in die Höhe getrieben. Die Stadt ist mit so vielen Bürgern sichtbar überfordert.
Der Mann, der diesen kriselnden Moloch, unter dessen schläfriger Oberfläche eine enorme Spannung herrscht, managen soll, ist erst 33 Jahre alt und sieht zudem aus, als hätte er gerade erst die Uni hinter sich. Doch dieser Eindruck täuscht. Bürgermeister Osman Baydemir ist ein in vielen Auseinandersetzungen gestählter kurdischer Aktivist. Der Anwalt war bis vor zwei Jahren noch Vorsitzender des Menschenrechtsvereins von Diyarbakir und der umliegenden Provinz. Seit gut eineinhalb Jahren ist er nun Bürgermeister der Stadt und damit zugleich der Vertreter der prokurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP), der das höchste öffentliche Amt bekleidet. Baydemir ist somit einer der wichtigsten Sprecher der kurdischen Bewegung geworden. Seit der Gewalteruption vor zwei Wochen vertritt er überall in den türkischen Medien die kurdische Sicht auf die Ereignisse.
Auch international ist Baydemir inzwischen ein wichtiger Ansprechpartner. Er ist regelmäßig in Brüssel zu Gast, und gerade erst wurde er auch in den USA von Vertretern der Bush-Regierung empfangen – sehr zum Ärger der türkischen Regierung. Eine, die ebenfalls von ihm wissen will, was denn nun los ist in den kurdischen Gebieten der Türkei, ist Claudia Roth. Die Grünen-Chefin, die sich seit langem für die deutschtürkischen und deutschkurdischen Beziehungen engagiert, ist nach Diyarbakir gereist. Wie die meisten Beobachter ist sie überrascht davon, wie schnell der friedliche Reformprozess wieder in nackte Gewalt umschlagen konnte.
Im Gegensatz zur Regierung in Ankara, aber auch vielen türkischen Intellektuellen sieht Baydemir die Verantwortung dafür nicht bei der PKK, sondern bei den Militärs und dem „unentschlossenen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan. Er“, sagt Baydemir auf Nachfrage, „hat keine Roadmap für die Lösung der kurdischen Frage, er weiß nicht, was er will. Und deshalb konnten die Hardliner im Militär den demokratischen Reformprozess stoppen“ – diese seien auch für die blutigen Ausschreitungen verantwortlich.
Auslöser der Unruhen war der Tod von 14 PKK-Militanten in den Bergen nordöstlich von Diyarbakir. Baydemir ist vorsichtig, als er sagt, die Bevölkerung dort sei überzeugt, dass die Armee gegen die PKK-Guerilla chemische Waffen eingesetzt habe – eine Behauptung, die die türkische Regierung scharf als Propagandalüge zurückweist. Auf die Nachfrage aber, warum denn „die Organisation“, wie die PKK von kurdischen Politikern immer nur genannt wird, vor zwei Jahren wieder angefangen hat, zu schießen und zu bomben, obwohl doch nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes und den kulturellen Zugeständnissen aus Ankara sich gerade so etwas wie Normalität entwickelt habe, bleibt Baydemir die Antwort schuldig.
Andere Aktivisten in Diyarbakir sind da offener. Sie wollen allerdings anonym bleiben. Gerade diese sich entwickelnde Normalität, argumentieren sie, war der Grund für die PKK, wieder zu schießen. Ihre Führer in Europa und im Nordirak hätten Angst bekommen, die friedliche Entwicklung in den kurdischen Gebieten der Türkei könne ihren Einfluss beschneiden. Vor allem der „große Führer“ der Partei, der auf der Marmarainsel Imrali inhaftierte Abdullah Öcalan, sehe sich in seinen Erwartungen enttäuscht. „Öcalan will Ankara zwingen, ihn als Repräsentanten der Kurden anzuerkennen und sich mit ihm an einen Tisch zu setzen“, sagt ein Anwalt, der seit Jahren kurdische Aktivisten vertritt. Bis heute sorge Öcalan dafür, dass kein anderer kurdischer Politiker unabhängig von ihm und der PKK auftreten könne. „Da wird enormer Druck ausgeübt.“
Druck erzeugt Widerstand
Eine, die seit langem enormem Druck von verschiedenen Seiten ausgesetzt war, ist Leyla Zana. Die neben Öcalan bekannteste Vertreterin der kurdischen Bewegung in der Türkei ist seit einem halben Jahr völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Frau, die für ihr politisches Engagement mehr als zehn Jahre im Gefängnis saß und danach an der Gründung der DTP maßgeblich beteiligt war, die Frau, von der viele gehofft hatten, dass sie zu einem friedlichen Ausgleich im kurdisch-türkischen Konflikt beitragen könnte, hat sich von der politischen Bühne zurückgezogen. Um Claudia Roth, die sie oft im Gefängnis besucht hatte, zu treffen, ist Leyla Zana für einen Abend aus ihrem Dorf nach Diyarbakir gereist.
Wenn man sie trifft, fällt auf, dass sie noch kleiner ist, als sie im Fernsehen wirkt. Umso beeindruckender ist ihre Ausstrahlung. Ihre Lebhaftigkeit, ihre strahlenden Augen und ihr sicheres Auftreten widerlegen sofort die offizielle Version, sie habe sich aus Krankheitsgründen zurückgezogen. Obwohl auch sie selbst behauptet, sie sei völlig ausgebrannt und habe sich nach dem Gefängnis und dem Wirbel im Anschluss an ihre Entlassung erst erholen müssen, ist sie sofort bereit, Pläne für eine neue Friedensinitiative zu machen. Allerdings ist sie, wie alle anderen Gesprächspartner vor Ort auch, zutiefst pessimistisch, was die nähere Zukunft angeht. „Die Jugendlichen, die jetzt auf die Straße gegangen sind, sind nicht mit ein paar Zugeständnissen zufrieden zu stellen“, argumentiert sie. „Die wollen sowohl politische als auch kulturelle Freiheiten, und sie brauchen eine wirtschaftliche Perspektive.“
Weil alles, selbst im besten Fall, viel langsamer kommt, als sie erwarten, sei in der jungen Generation die Enttäuschung in Frust und Verzweiflung umgeschlagen. „Diese Jugendlichen haben als Kinder nur Krieg, Vertreibung und traumatisierte Eltern erlebt. In Diyarbakir leben sie in Slums. Alle von ihnen, wirklich alle, sind arbeitslos, ohne Hoffnung auf einen Job.“ Auch der jetzt von der Regierung vorgelegte Entwurf für ein neues Antiterrorgesetz, nach dem Eltern bestraft werden sollen, wenn Jugendliche sich an illegalen Demonstrationen beteiligen (siehe taz vom 26. 4.), werde sie nicht abhalten, wieder auf die Straße zu gehen. „Für sie“, sagt ein Anwalt, der einige der verhafteten Jugendlichen vertritt, „ist Öcalan ein Gott. Sie sind bereit, wieder zu kämpfen.“
Neue Gewalt führt aber als Erstes dazu, dass auch künftig kein Investor nach Diyarbakir kommt, auch die erhofften Touristen werden weiter ausbleiben. So steht zu erwarten, dass die einzige Großinvestition, die Ankara zum Ankurbeln des Tourismus im Südosten bisher getätigt hat, die Restaurierung der Stadtmauer von Diyarbakir, kaum etwas nützen wird, weil sowieso kein Tourist sie zu sehen bekommt. Dabei ist sie wirklich beeindruckend.