: Ich bin ein Bewohner der Gegentribüne
Wie ich lernte, Oliver Kahn zu lieben (II): Früher waren die Deutschen immer die anderen. Jetzt aber sehen wir auf dem Rasen uns selbst. Das „Nationale“ wird nicht zum Problem, weil es heikle Werte repräsentiert, sondern weil auch die Fußball-Nationalmannschaft es nicht mehr bringt. Es gibt nur eine Lösung
■ Ist Fußball die Spielwiese des neuen Bürgertums? Ist ästhetischer Individualismus (also für Brasilien sein) out? Muss man nicht gerade als Linker FÜR Deutschland sein? Die taz-Serie zur mentalen Vorbereitung auf die Fußball-WM: Wie ich lernte, Oliver Kahn zu lieben. Zuletzt erschien: Klaus Theweleit – Lehmann ist auch Kahn
VON BURKHARD SPINNEN
Als Borussia Mönchengladbach 1965 in die Bundesliga aufstieg, war ich Gladbacher und acht Jahre alt. Die Aufstiegsspiele sah ich im Stadion, auf den Schultern meines Vaters. Bislang hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wo genau ich eigentlich lebe. Dann erfuhr ich, dass Deutschland nicht wusste, wo Mönchengladbach liegt. Doch plötzlich rückten wir in die Mitte und aufs Podest. Meine Chance, kein Gladbach-Fan zu sein, war von da an gleich null.
Erst ein paar Jahre später, mit 15, konnte ich alleine ins Stadion gehen. Aber auf die Frage „Zu wem hältst du?“ hatte ich mittlerweile keine selbstverständliche Antwort mehr. Denn das Sich-Identifizieren geriet allmählich auf den Index unserer Halb-Generation, die man später als die der „Zaungäste“ beschreiben sollte. Wir, die „78er“, waren für den universellen Protest und die damit verbundene Gruppenbildung der 60er-Jahre definitiv zu jung gewesen; und jetzt war der Zug der Zeit zwar noch nicht abgefahren, aber etwas anderes als Trittbrettfahrer würde man nicht werden können. Das schreckte viele ab, sie wurden infolgedessen Zaungast aus Überzeugung und vervollkommneten die Haltung des bloßen Dabeiseins.
Und diese Haltung zeigten sie, zeigten wir demonstrativ auch da, wo es um „nichts“ geht: also zum Beispiel beim Fußball. Meine Schulfreunde und ich gingen ins Stadion. Die Bundesliga als Teil der korrupten Unterhaltungsindustrie zu boykottieren, lehnten wir als ideologisch und mehr noch als spaßverderberisch ab. Aber wir standen natürlich nicht im Fanblock, im Zentrum der Identifikation, sondern auf der Gegentribüne, am besten genau in Höhe der Mittellinie: als Ausdruck unserer grundsätzlichen Objektivität.
Borussia Mönchengladbach galt damals als das Junge, Neue und Aufmüpfige im deutschen Fußball. Und natürlich freuten wir uns über seine Siege – aber zwischen dem Torjubel blieb verdammt viel Zeit, um so über das Spiel zu sprechen, dass allen (besonders uns selbst) klar wurde: wir sind jederzeit bereit, nichts von dem, was da unten geschieht, an uns heranzulassen. Auf eine ganz andere Probe stellte uns Bewohner der Gladbacher Gegentribüne allerdings das Phänomen der Nationalmannschaft. Hier war es viel schwieriger, Un-Haltung zu bewahren, verkörperte doch die „National“-Mannschaft die „nationalen“ Sekundärtugenden wie Ordnung, Fleiß, Ausdauer etc. Die aber waren uns ebenso suspekt wie die linke Pauschalkritik daran.
Also begann ein Jahrzehnte dauernder Eiertanz: Die Nationalmannschaft fahnenschwingend zu unterstützen war Blubo und unmöglich! Ihr als der Repräsentantin des bösen Staates alles Schlechte zu wünschen war degoutante Polit-Folklore. Blieb die Möglichkeit, bei den WM für Dritte-Welt-Mannschaften zu brüllen. Dazu vielleicht eine Tasse fair gehandelten Kaffee? Gipfel der Albernheit! Es war eine klassische lose-lose-Situation. Und schließlich blieb als Rettung nur wieder die bloße Haltung: Deutscher zu sein ist ein Schicksal, das man am besten erträgt, ohne allzu viel Aufhebens davon zu machen.
Heute allerdings fürchte ich, dass wir Bewohner der Gegentribüne unser distanziertes Tête-à-Tête mit der Nationalmannschaft letztlich nur ertrugen, weil die ein gewisses Standardmaß an Erfolg garantierte. Zwei größere Titel pro Jahrzehnt, immer wieder Halbfinal- und Endspielteilnahmen: das stimulierte eine andere Variante klammheimlicher Freude. Die Titel entschädigten nämlich dafür, dass man sie nicht wirklich feiern konnte! Es ist leichter, sich vom Erfolg zu distanzieren als vom Misserfolg. Und es sieht entschieden besser aus.
Jetzt aber, 2006, riecht es nicht mehr nach Erfolg. Wer die deutsche Mannschaft noch als Träger deutscher Tugenden sehen will, macht sich lächerlich oder gefährdet sogar den Wirtschaftsstandort. Deutschland lebt im Fußball mittlerweile weitgehend vom Import. Im Gegensatz zur globalisierten Bundesliga aber steht der Nationalmannschaft ein immer kleiner werdender Kreis in Frage kommender Spieler zur Verfügung. Mit anderen Worten: das „Nationale“ wird zum Problem, nicht weil es heikle Werte repräsentiert, sondern weil es in der Abwehr schwimmt und im Sturm zaudert.
Noch konkreter: die Höttges, Vogts, Hölzenbein, Maier und Müller mit hochgezogener Augenbraue siegen zu sehen, war für den metakritisch postideologisch intellektuellen Fußballzuschauer, also für den Bewohner der Gegentribüne, eine geradezu empörend einfache Übung, verglichen damit, die Huth, Metzelder, Klose und Ballack verlieren zu sehen. Die amtierende Nationalelf spielt so, wie wir spielen würden, wenn wir noch Kraft und Luft dazu hätten: desorientiert, führungsschwach, neurotisch und verzagt.
Mir graut also nicht schlecht vor der WM. Die auf dem Platz waren immer die anderen, für die wir nur ganz wenig die Hände rührten. Man kann das: ironisch klatschen. Jetzt aber sehen wir auf dem Rasen in den Spiegel, sehen uns selbst, wieder mal „zur Kenntlichkeit entstellt!“. Würde man jetzt die Fahne schwenken – dann quasi für sich selbst. Und das war genau das, was wir nie gewollt haben.
In meinen schlaflosen Vor-WM-Nächten entwerfe ich deshalb Pläne einer besseren Zukunft. Meine momentane Lieblingsutopie ist ein Parallelentwurf zum „Verfassungspatriotismus“, jener Konstruktion, die eine emphatische Hinwendung nicht zu Land und Leuten oder Heimat und Nation, sondern zum abstrakten Entwurf einer Lebensordnung empfiehlt. In Analogie dazu soll mein Herz künftig für die Liga schlagen!
Und das geht so: Nach drei Jahren in der Bundesliga erwerben Fußballer aus aller Welt das Recht, für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen. Die erst ungeliebten, aber erfolgreichen, und dann, schlimmer noch, aussterbenden „Tugenden“ werden wegglobalisiert. Die Nationalmannschaft repräsentierte dann die Qualität der Liga. Das Nationale als das immer schon Bedenkliche würde von ihr abfallen, sie wäre gleichermaßen multikulturell wie rein deutsch – und sie wäre die erste Fußballmannschaft, der gegenüber ich die leidvolle Dauerreserve aufgeben könnte!
Höre ich Einwände? Ja. Zum Beispiel: Brutaler Neokolonialismus! So klaut man den Entwicklungsländern ihre Stars und infolgedessen ihre nationale Identität! – Stimmt. Aber warum soll für Ghana und die Elfenbeinküste so toll sein, was in Europa und anderswo so viel Schrecken verbreitet hat? Sollen wir multikulturell und globalisiert werden und die Dritte Welt schön weiter in local colour machen? Außerdem basierte meine Utopie auf freiwilligen Entscheidungen – und wer bitte fordert immer schon, dass der Mensch sich entscheiden dürfe, welchem Staat er angehört?
Nein, die Proteste bestärken mich nur! Am Tag nach dem letzten WM-Spiel mit deutscher Beteiligung beginne ich mit einem Entwurf für den DFB. Ich lasse mir meine Träume nicht nehmen. Ich will genau das erleben: Deutschland spielt im Borussenpark mit Fußballern aller Hautfarben von Pergament bis Espresso. Gegen Togo.
Togo hat acht Deutsche unter Vertrag. Und ich stehe wieder auf der Gegentribüne. Aber mit einer Fahne: es ist die der Vereinten Nationen. Und ich schreie mir die Seele aus dem Leib. Endlich!
BURKHARD SPINNEN, 49, lebt als freier Schriftsteller in Münster. Im Herbst erscheint von ihm der Sammelband „Kram und Würde“ (Schöffling & Co), darin sind auch seine Arbeiten zum Fußball.