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Archiv-Artikel

Trunkene Kamele im Garfield’s

DAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW

Die Menschen teilen nichts mit der Zeit, sie gestehen der Vergangenheit keine Meinung zu

Noch bevor der Sänger auf die Bühne tritt, singt ein Teil des Publikums im Chor eines seiner Lieder. Der Andrang ist groß, bald müssen die Zuschauer an den Aufgängen stehen, auf den Treppen sitzen. Das Publikum ist so unterschiedlich gekleidet, wie man es sich nur vorstellen kann. Manche der Frauen sind im schwarzen Abaha erschienen, andere in der neuesten, luftigen Mode aus Beirut. Traditionelle Dschellabahs sitzen neben T-Shirts und Anzügen.

Allen ist eine gesteigerte Erregung gemein, die explodiert, als Marcel Khalife seine Ud in die Hand nimmt und seinen unaufgeregten Gesang beginnt. Später, der Applaus ist verklungen und der Saal spürbar beglückt, sagt der neben mir sitzende junge Mann unvermittelt: „Und wir müssen heute zittern, ob sie Musik verbieten oder nicht.“ Er muss nicht erklären, wen er meint – die Islamisten, die Wahhabi, die Salafisten oder wie immer sie heißen mögen, jene angeblich frommen Kräfte, die eines der schönsten Geschenke Gottes abschaffen möchten. Auch auf der kleinen Insel Bahrain.

Die Hochburg dieser Musikvandalen befindet sich gerade einmal 25 Kilometer entfernt auf dem Festland. Seit einigen Jahren ist Saudi-Arabien über eine Brücke zu erreichen, die über den Ozean schwebt wie eine Mirage. Trotz dreier Spuren staut sich am Wochenende der Verkehr, denn die Männer Saudi- Arabiens pilgern nach Bahrain, um sich hemmungslos all dem hinzugeben, was daheim verboten ist: Kino, Alkohol, Musik, Sex.

Sie halten am ersten „Bottle Store“, der dem Premierminister Bahrains gehört, und saugen die ersten Flaschen aus wie durstige Kamele. Dann fahren sie auf der Insel herum und trinken, suchen Kneipen auf und trinken, und manche beschließen den Abend in Diskos wie dem Garfield’s: Dort kann man ältere Scheichs in traditioneller Kleidung sehen, auf den Schenkeln ein kaum volljähriges Thaimädchen. Am Freitagabend fahren sie nach Saudi-Arabien zurück, in Orte wie Dharan, Abkaik oder Al Dschubail, wo ein beachtlicher Teil jenes Erdöls gefördert, raffiniert und verschifft wird, das der Westen verbraucht. Hier versammeln sie sich zu den obligaten gemeinsamen Gebeten, und wer weiß, ob sie die Widersprüchlichkeit, ja die Heuchelei ihres Verhaltens überhaupt empfinden.

Es ist viel die Rede heutzutage von der Krise des Islams. Doch wenn einem ein Aufenthalt in Bahrain im Frühjahr des Jahres 2006 etwas vermittelt, dann ist es vielmehr die Krise Arabiens, oder genauer gesagt – die existenzielle Krise der arabischen Halbinsel. Der Islam ist eher ein Opfer dieser Krise, kahl geschoren muss er büßen für eine generelle Orientierungslosigkeit. Die Spannungen, die diese Gesellschaften fast zerreißen, verdanken sich eher einer überhasteten Modernisierung als einem sturen Beharren auf Tradition. Anders gesagt: Das Problem ist nicht, dass Arabien sich nicht modernisiert hat, sondern dass es sich zu schnell modernisiert hat.

Wer sich die Mühe macht, einige Tage zu Fuß durch Bahrains Hauptstadt Manama zu laufen, auf der Suche nach irgendetwas Altehrwürdigem, etwas, das von der Zeit angenagt oder gar zerfressen ist, könnte verzweifeln. Die Gebäude sind Kastenbauten aus Beton, nach dem Containerprinzip konstruiert, durchweht von dem fahlen Hauch der Klimaanlagen, denn die Menschen ertragen ihre eigene natürliche Luft nicht mehr. Das Alte ist fast vollständig zerstört, abgesehen von einigen musealen Häusern. Selbst die Reichen haben ihre schönen traditionellen Paläste niederreißen lassen, um geschmacklose moderne Konstruktionen hinzusetzen. Die Menschen teilen nichts mit der Zeit, sie gestehen der Vergangenheit keine Meinung zu. Die Bulldozer und Lastwagen der Baufirmen brausen durch Grabstätten einer viertausend Jahre alten Zivilisation, Jungs fahren mit ihren Mountain-Bikes über die Ruinen von Saar.

Die wohlhabenden Staaten am Persischen Golf haben einen rabiaten Sprung in eine gesichtslose und entwurzelte Moderne vollzogen. „Wir haben uns selbst verloren“, sagt ein junger Ingenieur nach dem zweiten Bier. „Unsere Vorväter waren Beduinen, wir sind nichts.“ Das Land wirkt, als habe es eine Transplantation erfahren, bei der das Organ und der Körper einander abstoßen.

Was bleibt, ist die Kleidung, Ausdruck einer vermeintlichen Achtung vor der Tradition, und natürlich die eigene Sprache, das Arabische, heißer und vor allem bewusster geliebt als wir es gewohnt sind. Der Islam der totalitären Puristen hingegen ist ebenso uniform und künstlich wie die funkelnagelneuen Bauten, enthistorisiert, seines sufistischen Ausdrucks entledigt. Der Sufismus war die Ebene, auf der der Islam seine jeweilige regionale kulturelle Ausformung erhielt. Und die Ausprägungen des Sufismus – seien es Musik, Philosophie, Tanz, Kalligrafie oder Dichtung – darben, wenn sie nicht gänzlich ausgelöscht sind. Religion minus Region ist nur noch eine sinnlose Silbe.

Seef bedeutet auf Arabisch Strand. Das Viertel desselben Namens entsteht allerdings zur Gänze auf Land, das dem Meer entrissen worden ist. Die Zukunft wird künstlich aufgeschüttet und dominiert von Shopping Malls, wo sich alles zusammendrängt, was in der globalen Konsumwelt Image und Namen hat. Das Flanieren durch die opulenten Hallen ist die mit Abstand beliebteste Freizeitbeschäftigung.

Der Islam der totalitären Puristen ist ebenso uniform und künstlich wie die nagelneuen Bauten

Jede einzelne Ware ist importiert, wie auch die Filme im Multiplex-Kino. Die verschleierten Frauen sehen sich die sex- und gewaltfeisten Streifen mit ihren Männern an. Danach befriedigen sie ihren Appetit bei Pizza Hut oder McDonald’s oder Dunkin’ Donuts, bedient von Filipinos oder Indern, die für Kummerlöhne schuften. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von völlig rechtlosen Gastarbeitern ist ein weiteres Indiz für die Krise.

In allen Ländern der Region erledigen Ausländer die niederen und einige der anspruchsvolleren Arbeiten – in Dubai machen die Einheimischen nur mehr fünfzehn Prozent der Bevölkerung aus. Der einstige Austausch mit Indien etwa, der eine befruchtende Gegenseitigkeit von beachtlicher kultureller Dynamik mit sich brachte, ist ersetzt worden durch kanalisierte Menschenströme, die eine Schicht von Vermittlern bereichern und eine rein funktionale Wirkung haben.

Zu den Verlierern dieser Krise gehören jene intellektuellen Stimmen, die der Westen als natürliche Verbündete ansieht. Sie sind durch die politischen Reformen der letzten Zeit einerseits entfesselt worden – die staatliche Kontrolle über die Medien hat sich gelockert, es gibt keine politischen Gefangenen mehr, die Zensurbehörde beschäftigt sich überwiegend mit Copyright-Fragen. Andererseits sind sie stummgekauft worden. Die Dichter und Denker versinken in die innere Emigration des Komforts. Sie verachten die Korrumpiertheit und die Machtgier der Königshäuser, fürchten sich aber vor den Islamisten. Sie akzeptieren stillschweigend die Tabus der Zeit: keine Kritik am Islam, am Propheten und an seinen Nachfolgern, aber auch nicht an den Religionsgelehrten und den Priestern. Die Regierung darf kritisiert werden, nicht aber der König. Der Bewegungsfreiraum für jene, die Marcel Khalifes kluge und emphatische Lieder schätzen, ist begrenzt. Und Konzerte wie das in Manama selten.