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Archiv-Artikel

Falloutforscher mit Pinzette

Im Nieselregen suchte der Jagdfunktionär Bernd Stegmaier im Frühjahr 1986 nach der Schilddrüse eines Rehs. Später fragte er sich, warum es so viel Tierfutter mit Wild zu kaufen gab

Viele Politiker vertilgten damals öffentlich Wildbret – als vertrauensbildende Essmaßnahme

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Bernd Stegmaier war einmal ein junger, forscher Jägersmann in Bayern. Dann kam die Tschernobyl-Wolke auch über sein Wild. Und der heute 55-Jährige, damals zudem Pressesprecher des Bayerischen Jagdverbandes und Berater des Bundesverbandes, sah sich mit Fragen bombardiert. „Alle wollten wissen, ob der Fallout auch unsere Viecher betrifft.“ Denn die Jagdzeit für Rehböcke stand vor der Tür. „Da fiebern alle immer drauflos. Das wäre am 15. Mai gewesen.“

Es begannen abenteuerliche Tage. „Erst“, sagt er im tiefen Münchnerisch, „verlegte das Landwirtschaftsministerium den Beginn der Saison schnell auf den 1. Juni.“ Zeit gewinnen. „Währenddessen trat abends ein dickbramsiger Innenminister vor die Kameras und verkündete: Deutschland ist sicher. Da passiert nix.“ Neben diesem Friedrich Zimmermann vertilgten andere Politiker öffentlich Wildbret, „so als vertrauensbildende Essmaßnahme“.

Es nutzte wenig: Die Bevölkerung wollte keinen Pilz mehr essen, kein Tier aus dem strahlenden Wald. „Der Druck war groß, der Markt für Wild binnen weniger Tage kaputt. Der Preis hatte sich schon Anfang Mai halbiert.“ Jäger sind verantwortlich für die Tiere, die sie in den Verkehr bringen. Aber sie können Strahlenbelastung nicht beurteilen. „Deshalb waren wir als Verband so wichtig, auch juristisch.“

Die Jagdfunktionäre ergriffen die Initiative. „Drei Tage nach der Wolke sind wir mit Ausnahmegenehmigung in den Wald und haben in der Dämmerung ein Stück Rehwild geschossen“, erzählt Stegmaier. „Zu Testzwecken.“ Aber darüber sprechen die Männer nicht gern.

Mit Handschuhen und Operationsbesteck, unter Leitung eines Tierarztes, zerlegten sie, mittlerweile im Dunkeln und im Nieselregen, das Tier, um Fleischstücke zu gewinnen, die durch Äsung Radioaktivität aufgenommen hatten. „Das mussten wir ja alles auch erst lernen. Wir kamen ja auch dazu wie die Jungfrau zum Kind.“

Stegmaier berichtet: „Wir wollten die Schilddrüse als Indikator, weil sich da das radioaktive Jod einlagert, und alle davor solche Angst hatten damals. Nur, das wusste auch der Tierarzt nicht, wo die liegt beim Reh. Da stehste dann im Regen, links die Taschenlampe, rechts ein Messer, schneidest den Hals hoch und darfst dich nicht am Fell kontaminieren. Aus Selbstschutz. Und damit die Ergebnisse nicht verfälscht werden. Mit Pinzette haben wir dann hinterm Schlund so ein knapp linsengroßes, blaßrosanes Dingchen gefunden, von eineinhalb Gramm Gewicht.“

Mit dem Material sind die Männer in ein Labor gefahren. „Abends nach 11 kamen wir an. Da wartete schon einer mit dem Reagenzglas in der Hand.“ Dann wurde gemessen. „Heraus kamen astronomische, gigantische Größen – vor allem bei der Schilddrüse.“ Egal: „Das wurde runtergerechnet auf Kilobelastung. Grenzwerte waren ja völlig beliebig.“

Stegmaier lernte von Experten: „Jeder Kontakt mit einem verstrahlten Lebensmittel kann Krebs auslösend sein, egal wie klein. Jedes falsche Becquerel kann dich killen.“ Behörden schickten derweil beruhigende Rundschreiben ins Land. Jeder esse doch eh nur 0,9 Kilogramm Wild im Jahr. Also sei „alles halb so wild mit dem Wild. Und manche Köche sagten: Wenn man Wildfleisch nur lange genug beizt, schwemmt das auch die Becquerels raus.“ Stegmaier gab die Mess-Ergebnisse weiter: „Wir haben den Jägern gesagt: Zieht eure eigenen Schlüsse.“ Das war ein Freifahrtschein. Kein Wunder, dass er heute „das ungute Gefühl hat, dass wir alle alles sehr verharmlost haben. Ich war Sprecher meiner Herrn. Wir haben versucht, nichts zu verschleiern. Aber eigentlich waren wir völlig überfordert.“

Tiefkühlketten, erinnert sich Stegmaier, hätten damals „Unmengen Wild zu Spottpreisen aufgekauft“. Zehn Jahre später, beim Einkauf für seinen Terrier Timmy, ist ihm aufgefallen: „Was es auf einmal an Wild in Tiernahrung gab! Wild mit Huhn, Wild mit Rind, Wild mit Wild.“ Sein Verdacht: „All das Zeug von damals wurde Stück für Stück der Tiernahrung beigemischt und vielleicht bis heute verkauft.“ Auch in die Nahrung für Menschen? Stegmaier zuckt die Schultern. „30.000 Rehe pro Jahr müssen irgendwo geblieben sein.“

Für sich hat Stegmaier sofort Schlüsse gezogen. „Lange habe ich keine Milch getrunken. Bis heute ess ich keine Pilze.“ Und Wild? „Fast nie.“ Stegmaier weiß, wenn er doch mal schwach wurde: „Auch das menschliche Gedächtnis hat seine Halbwertszeit.“

Bald nach Tschernobyl ist Stegmaier „auch aus der Jagerei ausgestiegen“. Und wenn er, wie neulich per Schiff auf der Rhone, „an einem AKW vorbeikommt, denk ich immer: Fahr schneller, Kapitän. Nicht dass jetzt gerade ein Leck auftritt.“ Heute ist Stegmaier Chefredakteur einer Golfzeitschrift. „Ich sehe die Viecher immer noch gern an. Aber ich niete sie nicht mehr um – es sei denn eines würde sich mal beim Golf meinem Abschlag in den Weg stellen.“