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Archiv-Artikel

Der Mann, der nur reden kann

„In Athen griff ich zum Hörer, stellte den Beamten zur Rede, und erkorrigierte den Fehler“

AUS LUXEMBURGUND STRASSBURGDANIELA WEINGÄRTNER

Vor dem Luxemburger Bahnhof steht ein schwer bepackter Mann. Den Aktenkoffer in der einen Hand, Rucksack über der Schulter, eine Jacketthülle unter den Arm geklemmt, winkt Nikiforos Diamandouros ein Taxi herbei. Noch am Morgen hat der Europäische Ombudsmann in seinem Büro in Brüssel Interviews gegeben. Jetzt wird er sich auf dem Plateau de Kirchberg, wo Außenstellen der europäischen Institutionen untergebracht sind, mit Mitarbeitern der EU-Kommission treffen.

Diamandouros ist ein schlank gewachsener, fast zwei Meter großer Mann. Das Schicksal hat den 63-Jährigen mit forschendem Blick und tiefer Stimme ausgestattet, die einen Saal mühelos in Schach halten könnte. Doch er schafft es, diese natürliche Dominanz mit zurückhaltendem Auftreten zu umkleiden – seinen Vortrag vor den Kommissionsmitarbeitern hält er im Sitzen. Als dann Fragen gestellt werden, legt er den Kopf leicht zur Seite, lauscht konzentriert. Ein Ombudsmann muss Vertrauen gewinnen, zuhören können.

Am Montag wird er in Brüssel seinen Jahresbericht vorstellen. Nach der Osterweiterung 2004 gab es 53 Prozent mehr Anfragen. Letztes Jahr hielt dieser Trend an, es kamen weitere 5 Prozent dazu. Allerdings ist für die meisten der jährlich knapp 4.000 Anfragen, die per Mail, Fax oder Post eingehen, Diamandouros gar nicht zuständig. Er darf sich nur einschalten, wenn es um europäische Institutionen geht. Doch seine Mitarbeiter sorgen dafür, dass innerhalb von zwölf Monaten jeder den Namen und die Telefonnummer der Stelle bekommt, die weiterhelfen kann.

70 Prozent der Anfragen und Beschwerden, die dann noch übrig bleiben, betreffen die Kommission, berichtet Diamandouros den EU-Beamten. „Ich bin überzeugt, dass dies kein negatives Licht auf Ihre Arbeit wirft. Es ist ein Ausdruck der Tatsache, dass Ihre Institution diejenige ist, mit der die meisten Bürger Kontakt haben.“ Als Seismografen sollten sie ihn nutzen, schärft der Ombudsmann seinen Zuhörern ein. „Wenn ich 300 Beschwerden über eine bestimmte Kommissionsabteilung erhalte, ist das ein guter Indikator, dass da etwas schief läuft.“

Er weiß, dass die Einstellung der Beamten sich ändern muss, wenn die Verwaltung bürgerfreundlicher werden soll. Solange die Mitarbeiter Beschwerdeführer als lästige Querulanten betrachten und im Bürgerbeauftragten einen Kontrolleur sehen, der hinter ihnen her spioniert, bleibt die EU eine Festung. Dann reduziert sich seine Leistung auf ein paar Zahlen im Jahresbericht. So erhielt ein französischer Journalist von der EU-Kommission 56.000 Euro Entschädigung, weil der von ihm beantragte Zuschuss zu einem Projekt zu kurzfristig gestrichen wurde.

Derlei ist jedoch nur ein Teil der Arbeit der 28 Rechtsanwälte und Juristen mit Hospitantenstatus, die für Beschwerden zuständig sind. Mit weiteren sieben Fachleuten für Presse und Kommunikation sorgen sie außerdem in Vorträgen, Seminaren und durch Broschüren dafür, dass die Institution des Europäischen Ombudsmannes bekannter wird. Der Chef geht mit gutem Beispiel voran: In den drei Jahren seiner Amtszeit hat er alle 25 Mitgliedstaaten und fast alle Kandidatenländer bereist. Er hält zwischen 50 und 75 Vorträge pro Jahr, führt Gespräche mit Nichtregierungsorganisationen, stellt seine Arbeit in Pressekonferenzen vor. In Gesprächen mit Mitarbeitern der Europäischen Institutionen versucht er, wie er das nennt, „ihre Kultur in Sachen Transparenz zu verbessern“.

Diamandourus’ Lieblingsvokabel lautet „to reach out“ – die Hand ausstrecken, Verbindung aufnehmen. Dieses Werben verfolgt zwei Ziele, die sich eigentlich ausschließen: Zum einen soll der Ombudsmann bei den Bürgern bekannter werden. Zum Zweiten sollen alle EU-Mitarbeiter verinnerlichen, was gute Verwaltung ausmacht, damit viele Klagen gar nicht erst entstehen. „Er ist nie zufrieden. Ständig legt er die Messlatte höher“, sagt bewundernd sein britischer Pressechef Hagard. „Er könnte mein Großvater sein. Aber beim letzten Interview des Tages, nach zwölf Stunden Terminen nonstop, ist er noch genau so enthusiastisch wie am Morgen.“

Ausdauer braucht Diamandouros. Lenkt eine Institution nicht ein, bleibt als letztes Mittel ein Sonderbericht. Etwa im Fall Hans-Martin Tillack. Der Stern-Journalist hatte sich beschwert, die Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf, die ihn der Beamtenbestechung verdächtigte, habe irreführende Behauptungen über ihn in die Welt gesetzt. Der Ombudsmann gab ihm Recht. Da die Behörde ihre Unterstellungen nicht zurücknahm, schrieb er einen Sonderbericht. Demnächst wird sich das Europaparlament damit befassen.

Im Dezember 2003 wandte sich die Junge Union Nordrhein-Westfalen an den Bürgerbeauftragten, weil der Rat sich weigerte, Gesetzesvorhaben öffentlich zu behandeln. Die Nachwuchspolitiker waren überzeugt, dies widerspreche dem Transparenzgebot der EU-Verträge. Diamandouros’ Rechtsabteilung teilt diese Auffassung. Sowohl die britische als auch die derzeit amtierende österreichische Ratspräsidentschaft machten halbherzige Anläufe, die Geschäftsordnung des Rates zu ändern. Eine einfache Mehrheit hätte ausgereicht. Für eine Kampfabstimmung aber fehlte ihnen der Mut.

Bereits im Oktober zückte der Ombudsmann seine schärfste Waffe, den Sonderbericht. Anfang April schloss sich das Europaparlament fast einstimmig seiner Auffassung an. Noch aber hofft der Schlichter auf eine einvernehmliche Lösung. „Als Jurist könnte man argumentieren, dass ja bereits alle 25 Regierungen den Text des neuen Verfassungsvertrages akzeptiert haben“, sagt Diamandouros, „und der schreibt öffentliche Sitzungen sogar vor. Das könnte eine einvernehmliche Lösung erleichtern.“

Seit elf Jahren schon gibt es dieses Amt, 20.000 Beschwerden haben der griechische Amtsinhaber und sein finnischer Vorgänger Jacob Söderman in dieser Zeit behandelt. Von den 6.000 Fällen, für die der Bürgerbeauftragte tatsächlich zuständig war, mündeten nur elf in einen Sonderbericht. Diamandouros sieht sein Amt als Service für die Bürger. „Es hat Vorteile, dass meine Entscheidungen nicht bindend sind. So kann ich einen viel größeren Bereich von Beschwerden behandeln als ein Gericht. Zweitens kann ich viel schneller handeln. Und drittens ist es kostenlos, mich einzuschalten. Deshalb ist es für die Bürger ein Gewinn, zusätzlich zum Gerichtsweg einen Ombudsmann zu haben, an den sie sich wenden können.“

„Wenn 300 Beschwerden über eine Abteilung in Brüssel kommen, weiß ich, da läuft was schief“

Die Deutschen sind, gemessen an der Bevölkerungszahl, in der Klagestatistik unterrepräsentiert. Das liege zum einen daran, dass es zwar in jedem Bundesland Petitionsausschüsse gebe, aber nur in vier Ländern Bürgerbeauftragte, glaubt der Ombudsmann. „Außerdem gibt es in Deutschland eine lange rechtsstaatliche Tradition. Es gab schon einen Rechtsstaat, bevor es eine Demokratie gab.“ Die Bürger seien daran gewöhnt, Konflikte vor Gericht auszutragen.

Aus seinem Heimatland Griechenland dagegen gehen überdurchschnittlich viele Beschwerden ein. Das liege daran, erklärt Diamandouros vergnügt, dass dort der nationale Bürgerbeauftragte einen so guten Ruf genieße. Den erwerbe man sich leicht, denn es gebe viele Probleme mit der Verwaltung, die sich aber auch schnell lösen ließen. Er muss es wissen, vor seinem Wechsel zur EU hatte er das Amt selbst innegehabt. „Ich griff zum Hörer, stellte den Beamten zur Rede, und er korrigierte den Fehler. Schon wieder ein Pluspunkt für meine Statistik …“

Sein Nachfolger in Athen hat sogar einen „Leitfaden für gutes Benehmen“ herausgebracht. Der rät Beamten unter anderem, „Bürger höflich zu grüßen und während des Gesprächs nicht zu essen, zu rauchen, Bücher zu lesen oder am Mobiltelefon zu sprechen.“ Diamandouros zeigt wenig Verständnis für den Schlendrian in seiner Heimat. „Bei uns werden die Verwaltungsposten nach Parteibuch vergeben“, schimpft er. Wahrscheinlich ist es ihm deshalb so wichtig, immer wieder zu betonen, er sei ein ganz und gar untypischer Grieche. Seine Mitarbeiter bestätigen das. Sein finnischer Vorgänger adelte ihn mit dem Titel: der skandinavischste Grieche, den ich kenne.

Auf ihr gut geöltes Gefüge aus transparenter Verwaltung, selbstbewusster Bürgerschaft und effizienter Streitschlichtung sind die Skandinavier enorm stolz. Vor zweihundert Jahren wurde in Schweden der erste Ombudsmann Europas eingesetzt. Erst in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts folgten die südlichen Länder Spanien, Portugal und Griechenland dem Beispiel. Nach der Wende zogen die neuen Demokratien im Osten nach. Nur Polen hatte bereits unter dem kommunistischen Regime in den 80er-Jahren ein Ombudsbüro.

Nach zwei langen Sitzungen in Luxemburg macht sich der Europäische Bürgerbeauftragte am späten Nachmittag endlich auf den Weg in sein Hauptbüro in Straßburg. 220 Kilometer liegen noch vor ihm, doch erschöpft wirkt der 63-Jährige nicht. Das sei schließlich für einen europäischen Nomaden, der seine Zeit zwischen Brüssel, Straßburg und dem Rest Europas aufteilen muss, ein ganz normaler Arbeitstag, winkt er ab. „Wir Südländer lieben eigentlich Übertreibungen, ich bin da wohl nicht typisch“, betont er noch einmal. Aber was ist schon typisch im europäischen Völkergemisch? Nicht einmal das skandinavische Vorbild passt. König Karl XII. von Schweden brachte die Idee 1709 aus dem türkischen Exil mit. Der Europäische Ombudsmann ist also in Wahrheit ein orientalisches Produkt.