: Die erste Wahl der Mafia
Zahlreiche Politiker der Forza Italia sind in Mafiaprozesse verstrickt. Auch Silvio Berlusconi steht seit Jahren im Zwielicht
VON MARCO TRAVAGLIO
Sofort nach seiner knappen Wahlniederlage forderte Silvio Berlusconi nicht nur eine Überprüfung von 43.000 umstrittenen Stimmzetteln in Italien, sondern gleich dazu die komplette Neuauszählung der von den Auslandsitalienern abgegebenen Stimmen; da nämlich habe es „gravierende Unregelmäßigkeiten“ gegeben.
Die Forderung überrascht schon deshalb, weil die gesamte Abstimmungsprozedur in den Händen des Innenministeriums der Regierung Berlusconi lag. Sie überrascht aber auch vor einem ganz anderen Hintergrund: Nicht immer, nicht überall ist Berlusconis Blick auf mögliche „gravierende Unregelmäßigkeiten“ so kritisch – zum Beispiel nicht in Sizilien. Die Insel bildet seit Berlusconis Einstieg in die Politik 1994 das wichtigste Stimmbecken für seine Partei Forza Italia und für seine Koalition. Viele der Abgeordneten und der Senatoren aus seinem Lager haben Ermittlungsverfahren oder Prozesse laufen – wegen Mafiaverstrickungen. Doch kein einziger musste sein Mandat niederlegen oder wenigstens bis zur Aufklärung der Vorwürfe ruhen lassen. Im Gegenteil: Alle wurden wieder als Kandidaten aufgestellt, meist dazu noch auf sicheren Listenplätzen, um ihnen die Wiederwahl zu garantieren.
Berlusconi selbst musste sich über die Jahre in Palermo fünf Ermittlungsverfahren gefallen lassen, wegen Unterstützung einer mafiösen Vereinigung und wegen Geldwäsche; allerdings wurden alle diese Verfahren eingestellt. Auch die Staatsanwaltschaften von Florenz und Caltanissetta ermittelten: Sie verdächtigten Berlusconi gar, einer der Hintermänner jener blutigen Anschläge der Mafia von 1992/93 in Palermo, Mailand und Florenz gewesen zu sein, die die Staatsanwälte Giovanni Falcone, Paolo Borsellino und zahlreiche andere das Leben kosteten. Auch diese Ermittlungen wurden schließlich eingestellt, weil innerhalb der vom Gesetz für ein Ermittlungsverfahren vorgesehenen Fristen keine hinreichenden Beweise für eine Anklageerhebung gefunden wurden.
Marcello dell’Utri, seit Jahrzehnten Berlusconis rechte Hand, kam nicht so gut davon. Seit den frühen Siebzigerjahren war Dell’Utri erst Berlusconis Privatsekretär, dann führender Manager in dessen Medienholding; in den Jahren 1993/94 nahm er für seinen Chef den Aufbau der Forza Italia in die Hand, für die er seit zehn Jahren im Parlament sitzt – und 2004 wurde er in Palermo wegen Unterstützung der Mafia zu neun Jahren Haft verurteilt. In eben jenem Prozess wurde auch Berlusconi als Zeuge angehört, am 27. November 2002 im Amtssitz des Ministerpräsidenten in Rom. Zum Beispiel wollten die Richter wissen, was es mit jenem „Stallknecht“ (und Mafiaboss) Vittorio Mangano auf sich hatte, den Berlusconi auf seinem Anwesen im Jahr 1974 eingestellt hatte. Sie wollten wissen, welche Beziehungen Berlusconi und Dell’Utri in den Siebzigern zum damaligen Boss der Bosse, Stefano Bontate, gepflegt hatten, sie wollten Auskunft über die von diversen Mafiakronzeugen bezeugte Unterstützung, die die Cosa Nostra der Partei Forza Italia von der Gründung an zuteil werden ließ. Und die Richter interessierte auch die mysteriöse Herkunft jener 250 Millionen Euro (wenn wir die heutige Kaufkraft zu Grunde legen), die in den Jahren 1975 bis 1985 in diverse Berlusconi-Firmen geflossen waren.
Doch Berlusconi ließ sich die Chance entgehen, mit einigen Schatten aus seiner Vergangenheit aufzuräumen. Stattdessen machte er lieber von dem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch, das ihm als ursprünglich im gleichen Verfahren Angeschuldigten zur Verfügung stand. Offenbar war ihm das Schweigerecht des Privatbürgers Berlusconi wichtiger als die moralische Pflicht des Ministerpräsidenten Berlusconi zu Transparenz bei diesen heiklen Fragen.
In dem Urteil gegen seinen Freund und Kumpan Dell’Utri finden sich auch einige beunruhigende Passagen über Berlusconi selbst. Nicht umsonst wurde Dell’Utri ja verurteilt, weil er als rechte Hand Berlusconis zugleich 30 Jahre lang der Mafia gedient haben soll. Seit 1994 – schreiben die Richter in ihrer 1.800-seitigen Urteilsbegründung – hat Cosa Nostra massenweise für Forza Italia „gestimmt und stimmen lassen“, weil der vorgestern verhaftete Boss Bernardo Provenzano von Dell’Utri „Garantien erhalten“ habe. Die 30-jährigen Beziehungen zwischen Dell’Utri und der Cosa Nostra „überdauerten auch die blutigen Anschläge von 1992/93“, und Dell’Utri habe sich „auf dem Feld der Politik der Cosa Nostra gegenüber immer disponibel gezeigt, in einer Phase, in der die Cosa Nostra mit gravierenden Mordtaten ihre ganze kriminelle Grausamkeit gezeigt hatte“.
Kurz und gut: es gebe „sichere Beweise für die mafiose Verstrickung des Angeklagten Dell’Utri auch mit Blick auf sein politisches Wirken“. Noch in den Jahren 1993/94, just zu dem Zeitpunkt, als er mit dem Aufbau der Forza Italia beschäftigt war, traf Dell’Utri mehrfach in Mailand mit dem Mafiaboss Vittorio Mangano zusammen, „um konkrete Hilfsmaßnahmen für die Cosa Nostra in Aussicht zu stellen, wenn die Mafia im Gegenzug Forza Italia unterstütze“. Es gebe, so das Urteil weiter, „den Beweis, dass Dell’Utri der Mafia präzise Vorteile versprochen und dass die Mafia ihr Wahlverhalten immer stärker zugunsten von Forza Italia orientiert hat“. Und noch 1999 – das geht aus den Abhörprotokollen von Gesprächen zwischen Provenzano-Gefolgsleuten hervor – ließ die Cosa Nostra ihre Leute für den damals fürs Europaparlament kandidierenden Dell’Utri stimmen, „um ihn von seinen juristischen Problemen zu befreien; die Vertreter der staatlichen Institutionen wollten – so sagten die Mafiosi mit Blick auf die Staatsanwälte – ,ihn ficken‘, aber wenn er erst einmal im EP säße, könnten sie ihm nichts mehr antun“.
Aber auch jenseits der juristischen Aspekte haben wir bis heute keine Antwort auf die Fragen, die die enormen Erfolge der Forza Italia und ihrer Koalitionspartner in Sizilien aufwerfen. Bei den vorletzten Parlamentswahlen von 2001, als mit dem Mehrheitswahlrecht abgestimmt wurde, eroberte die Berlusconi-Koalition in Sizilien ausnahmslos alle 61 Wahlkreise, während die Linke keinen einzigen Sitz gewann; und bei dem Wahlgang vom letzten Wochenende (mit dem neuen Proporzwahlrecht) konnte die geschlagene Koalition in Sizilien ihr landesweit bestes Ergebnis einfahren: 58 Prozent. Bis zum Beweis des Gegenteils heißt das natürlich nicht, dass es in Sizilien zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Es heißt auch nicht, dass der scheidende Ministerpräsident und seine Alliierten um die Stimmen der Mafia geworben hätten. Doch wer weiterhin Personen als Kandidaten aufstellt, die in Mafiaprozesse verwickelt sind (beginnend beim Präsidenten der Region, Salvatore Cuffaro, der der Unterstützung der Mafia angeklagt ist), kann kaum behaupten, dass ihm die Mafiastimmen allzu sauer aufstoßen. Wenn man der Mafia das eine oder andere unmissverständliche Signal sendet, muss man um ihre Stimmen erst gar nicht bitten: Sie kommen von ganz allein.