: Innovation ohne Atom
Vor dem Energiegipfel: Der Ausstieg aus der Atomkraft war auch wirtschaftspolitisch ein weitsichtiger Schritt. Denn er dürfte bald zu einem neuen Wirtschaftswunder führen
Mag sein, dass bei den Grünen derzeit angesichts der jüngsten Wahlergebnisse Katzenjammer herrscht. Doch für Depression gibt es keinen Grund, im Gegenteil: Der Partei steht eine glänzende Zukunft bevor. Schon in wenigen Jahren werden die Grünen gefeiert werden wie einst die Wirtschaftswunder-CDU in der Nachkriegszeit. Dann wird sich nämlich zeigen, dass der Ausstieg aus der Atomenergie der wirtschaftspolitisch klügste Schritt der letzten Jahre war.
Betrachten wir den Ausstieg aus der Atomkraft einmal ganz so, als ob es andere und bessere Gründe als das atomare Risiko, die ungeklärten Endlager für radioaktiven Abfall oder die Terrorgefahr in den AKWs gar nicht gäbe, dann erscheint er zumindest auch wirtschaftspolitisch sinnvoll. Denn der Ausstieg beschert dem Staat ein kostenloses Beschäftigungs-, Innovations- und Konjunkturprogramm, weil er für hohen Druck auf Deutschlands Energieversorgung sorgt.
Man muss sich die Energieversorgung wie einen See mit immer gleichem Wasserstand vorstellen. Der Abfluss – also der Energieverbrauch – ist in den letzten Jahren relativ konstant. Entsprechend konstant muss auch der Zufluss – also die Energieversorgung – sein: Versiegt ein Zustrom, muss ein anderer den See speisen. Apologeten behaupten deshalb, dass es um die Stromversorgung Deutschlands in Zukunft düster bestellt sein wird. Ein knappes Drittel des Verbrauchs wird aktuell durch Atomkraft gedeckt. Bis zum Jahr 2035 aber wird dieser Zufluss versiegen. Wenn in Deutschland nicht die Lichter ausgehen sollen, muss er ersetzt werden.
Erdgas bietet sich nicht als Ersatz an: Zum einen hat der russisch-ukrainische Gasstreit Anfang des Jahres auch Deutschlands Rohstoffabhängigkeit deutlich gemacht. Außerdem wird Erdgas immer knapper, und damit auch immer teurer.
Kohle verbietet sich schon aus klimapolitischen Gründen. Braunkohle ist zwar immer noch der wichtigste heimische Energieträger, produziert aber bei der Verbrennung zu viel Kohlendioxid. Aber auch die Steinkohle, deren Kohlendioxidbilanz nicht ganz so schlecht ausfällt, ist problematisch.
Alternativen müssen also her, zumal Windstrom, Biomasse oder Wasserkraft leider nicht ausreichen: Wind ist nicht ständig verfügbar, Wasserkraft in Deutschland kaum noch ausbaufähig, und Rapsöl und Ethanol gehören in den Benzintank: Für die Stromproduktion ist Bioenergie einfach zu schade.
Wenn also die Stromversorgung in Zukunft nicht mehr auf dem gleichen Level wie bisher gewährleistet ist, muss künftig beim Energieverbrauch an der Schraube gedreht werden. So wird sich der Atomausstieg als Motor für Innovationen entpuppen. Denn Deutschland wird sich technologisch einiges ausdenken müssen, um künftig mehr Energie zu sparen. Das ist längst die gängige Wirtschaftsphilosophie: Werden Rohstoffe knapp, muss man an ihrer effizienteren Nutzung arbeiten. In Japan wurde gerade ein Kühlschrank entwickelt, der siebenmal weniger Energie verbraucht als sein deutscher Konkurrent. Wer wird wohl bessere Absatzchancen haben, wenn Energie deutlich teurer wird?
Auf dem Markt werden mittelfristig nur noch energieeffiziente Technologien Akzeptanz finden. Wer jetzt – egal ob aus Zwang oder Weitsicht – solche Technologien entwickelt, wird morgen der Marktführer sein. Schon bei den erneuerbaren Energien zeigt Deutschland derzeit, welch kreatives Potenzial es besitzt. Nirgendwo sonst ist die Branche in den letzten Jahren derart rasant gewachsen – dank dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. 46 Staaten haben sich dieses Gesetz, wenn auch hauptsächlich aus klimapolitischen Gründen, mittlerweile zum Vorbild genommen. Denn nur wenn es der Menschheit gelingt, ihre Kohlendioxidbilanz zu verbessern, wird ihr der Klimawandel mit seinen gigantischen volkswirtschaftlichen Kosten erspart bleiben.
Der Ausstieg aus der Atomkraft ist da ein Schritt in die richtige Richtung. Allein im Sektor der erneuerbaren Energien hält die Branche künftige Investitionen von 200 Milliarden Euro bis 2025 für durchaus realistisch. Nicht nur dass sich die Branche zutraut, den versiegenden Atomstrom zu ersetzen. Längst haben sich deutsche Windradbauer internationale Märkte erschlossen, und längst sind in Deutschland produzierte Solarzellen auch in Amerika gefragt.
Jede Epoche hat ihre Basistechnologie, die sie prägt. Was für die letzten 20 Jahre die Informationstechnologie war, werden für die nächsten 20 Jahre neue Technologien zum intelligenten Einsatz von Energie und Rohstoffen sein. Das erkannt zu haben ist das eigentliche Verdienst der Grünen. Und diese Einsicht wird sie in einigen Jahren zu den Vätern des kommenden Wirtschaftswunders erheben.
Allerdings gelang den Grünen ihr Wandel zur Wirtschaftswunderpartei nur dank dem Ökoflügel unter den Sozialdemokraten. Mag das Erscheinungsbild der rot-grünen Regierung auch vom Dauerclinch zwischen energiepolitischen Steinzeitdogmatikern wie Werner Müller oder Wolfgang Clement und dem Antreiber Jürgen Trittin geprägt gewesen sein, so muss doch der historischen Wahrheit zuliebe gesagt werden: Maßgeblichen Erfolg an der energiepolitischen Wende hatte die Ökofraktion der SPD, aus der gewaltige Impulse für eine zukunftsfähige Energiepolitik kamen.
Das ist ein Vorteil für die Grünen: Jetzt, da sich ein Energiegipfel anschickt, die Zukunft der deutschen Energieversorgung zu beschreiben, sitzen jene SPD-Politiker an den Hebeln der Macht, die gestern noch Partner der Grünen waren. Auf Atomenergie kann morgen aber nur verzichtet werden, wenn heute dafür die politischen Weichen gestellt werden. Einerseits muss Ersatz her: Den Netzbetreibern muss die Politik mit vereinfachten Planungswegen entgegenkommen, damit diese jetzt für Übertragungskapazitäten für Offshore-Windparks sorgen. Zweitens muss mehr Geld in die Erforschung regenerativer Energiegewinnung gesteckt werden – ein Speichermedium brächte enorme Qualitätssprünge. Und drittens muss die Politik auch der alternativen Energiewirtschaft stabile Rahmenbedingungen garantieren. Das heißt, dass im nächsten Jahr – wenn die Überprüfung der Fördersätze im Erneuerbare-Energien-Gesetz ansteht – nicht gleich wieder von einer Abschaffung des Gesetzes geredet werden darf.
Andererseits wird der Effizienzsprung nur gelingen, wenn neue Anreize geschaffen werden. Mit dem Gebäudesanierungsprogramm hat die schwarz-rote Koalition schon mal einen Anfang gemacht. Jetzt müssen aber auch neue Gesetze zur Kraft-Wärme-Kopplung, ein Solarwärmegesetz sowie neue Quoten zur Beimischung nachwachsender Kraftstoffe her.
Und nicht zuletzt sollten auch die vielen Stand-by-Schalter an Computern, CD-Playern und Fernsehern bald durch herkömmliche Aus-Knöpfe ersetzt werden. Denn allein für den Stand-by-Betrieb dieser Geräte ist derzeit ein ganzes Atomkraftwerk nötig. NICK REIMER