: Blutige Idylle des 19. Jahrhunderts
Neokonservative Publizisten beschwören die Großfamilie als Rettung für Deutschland. Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen interessiert sie dabei herzlich wenig
Deutschland fehlen die Kinder. Ganze Landstriche veröden. Wir verspielen unsere Zukunft – das bevölkerungspolitische Schreckensszenario wird täglich in den Medien zelebriert. Längst geht es nicht mehr nur um die leeren Rentenkassen. Nein, die gesellschaftliche Dynamik insgesamt kommt zum Erliegen. Das vergreisende Deutschland wird über kurz oder lang von „jungen“ Gesellschaften im globalen Wettkampf gnadenlos abgehängt werden.
Was also tun? Geradezu rührend einfach das Rezept von Exverfassungsrichter Paul Kirchhof: Frauen sollten pro Kind und Jahr 10.000 Euro erhalten, „und zwar weil sie Großes geleistet haben“. Endlich eine Gebärprämie, die aus Mehrfachmüttern nach Wurfleistung bezahlte Besserverdienerinnen machen würde. Da könnte sich sogar Familienministerin von der Leyen eine Karriereauszeit erlauben und sich ganztags ihren sieben Kindern widmen.
Nur: Frauen in Deutschland wollen Beruf und Kinder. Meist in dieser Reihenfolge. Viele besser ausgebildeten Frauen (und Männer) verzichten auf die Fortpflanzung, da Väter selten bereit sind, den Dienst an der Wickelkommode mit den Müttern zu teilen, es an Krippen fehlt, Kitas unzureichend sind und eine Kinderfrau den meisten zu teuer ist.
Ganz allmählich macht sich bei den politisch Verantwortlichen die Erkenntnis breit, dass noch am ehesten zur Fortpflanzung animiert werden kann, wenn die vielen Milliarden, die durch Steuersplitting, Kinderfreibeträge und Kindergeld in die Familien gepumpt werden, in Krippen und Kitas mit gut ausgebildetem Fachpersonal umgelenkt würden. Doch diese vorsichtige Annäherung an eine moderne Familienpolitik wird im Moment heftig durchkreuzt von einem neokonservativen Diskurs, wonach alle Übel dieser Welt darauf zurückzuführen sind, dass die traditionelle Großfamilie des 19. und 20. Jahrhunderts nicht mehr existiert.
Die „innerlich kaputte Gesellschaft“ hat sich „irgendwann Ende der Sechzigerjahre dazu entschlossen, den Nachwuchs auf ein Minimum zu drosseln“, jammert Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek in einem breit angelegten Jubelartikel zu „Minimum“, dem neuen Buch von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Deutschland versündige sich gegen eine „Urverfassung der menschlichen Natur“, nämlich die Familie. Ein apokalyptisches Bild wird beschworen: Die Gesellschaft auf dem „Marsch in eine düstere Zukunft“, auf dem nach und nach die sozialen Netze „Masche für Masche“ reißen.
Matussek hört die Reißgeräusche bereits „täglich“. Grund: Vorstellungen von Versorgung und Solidargemeinschaft lernt man nur in der Blutsgemeinschaft, so Matussek. Denn Wahlverwandtschaften sind zu unverbindlich. Die Stammtischweisheit „Blut ist dicker als Wasser“ wird bei Matussek zur Stammhirnwahrheit: „Das Stammhirn sagt: Rette deine eigenen Leute.“ Beweis: das von Familienfrauen organisierte Überleben eines amerikanischen Siedlertrecks im 19. Jahrhundert, um das herum Schirrmacher seine Thesen aufbaut.
Womit wir endlich bei den Frauen und ihrer Rolle in den Familien wären, über die Schirrmacher und Matussek ansonsten beharrlich schweigen. Höchste Zeit also, ein paar Fakten ins Gedächtnis zurück zu rufen: Die „Selbstlosigkeit“, die man bis vor kurzem noch in der Familie lernte, war, dass das größte Stück Fleisch für den Papa reserviert war. Was Mädchen und Jungen heute noch lernen: dass Männer das Geld nach Hause bringen, Frauen für die Gefühle, die Schmutzwäsche und den Putzlappen zuständig sind.
Wer’s nicht glaubt, lese die repräsentative Untersuchung des Statistischen Bundesamts über die Zeitverwendung der Bevölkerung aus dem Jahr 2002. Ein Beispiel: Mädchen leisten bereits zwischen 10 und 14 Jahren täglich eine Viertelstunde mehr Hausarbeit als ihre gleichaltrigen Brüder. Die „Urverfassung der menschlichen Natur“ birgt aber für Frauen noch weitere Tücken: Vier Millionen Frauen werden in Deutschland jährlich von Ehemännern oder Lebensgefährten misshandelt. Die steigenden Zahlen von hunderttausenden ehrenamtlich in Krankenhäusern, Gefängnissen, Suppenküchen, Schulen Engagierten (oft Frauen) sprechen im Übrigen gegen die konstatierte Bindungslosigkeit in der Gesellschaft.
Man könnte Schirrmacher und Matussek mit ihren atavistischen Bluttheorien rechts liegen lassen. Leider sind die beiden Herren aber nicht die einzigen Stimmen im anschwellenden Bocksgesang der rückwärts gewandten Familienapologeten. Allenthalben werden der angebliche Verlust von Bindungen und Verbindlichkeit in der Gesellschaft beklagt, einzig und allein festgemacht an steigenden Scheidungsziffern und fallenden Geburtenraten. Der Dramatiker Botho Strauß konstatiert, der säkularen Gesellschaft sei der Kitt der Religion abhanden gekommen.
Der Verfassungsrichter Udo di Fabio („Die Kultur der Freiheit“) sieht Deutschland auf dem Holzweg, der da heißt: „Freiheit von der Bindung“. Stattdessen müsse es wieder mehr „Freiheit zur Bindung“ geben, und zwar in traditionellen Gemeinschaften wie Ehe, Familie, Kirchen und, immerhin auch, Gewerkschaften. Wie es anders sein kann, haben wir eigentlich täglich vor Augen, mahnen die beiden Neokons: als islamische Familie. Strauß sieht in Religion und Familienbindungen islamischer Zuwanderer eine „sakrale Potenz“, die Udo di Fabio anscheinend wörtlich versteht (sofern Jan Feddersen in der taz vom 16. 2. den Verfassungshüter korrekt wiedergibt). Der erzählt demnach gern von einem Ausflug mit Frau und den vier Söhnen, bei dem er so etwas wie Respekt in den Augen eines türkischen Familienvaters angesichts der zahlreichen kleinen di Fabios gesehen haben will.
Den Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen liest man in diesen Kreisen wohl eher nicht. Dort steht nämlich, dass hohe Geburtenraten oft damit zu tun haben, dass Frauen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verwehrt wird. Was wir natürlich bei Familie di Fabio nicht annehmen wollen.
Es sind ausschließlich Männer, die die Rettung Deutschlands durch die heile Familie, wenn’s sein muss, nach islamischem Muster, beschwören. Männer, deren berufliches Leben ihnen vermutlich kaum Zeit lässt, die „Kinder aufwachsen zu sehen, um Zuneigung und eine fürsorgliche Mentalität zu entwickeln“ (Schirrmacher).
Bundespräsident Köhler gehört übrigens nicht dazu. Ist er doch einer der wenigen, die dem Schreckenszenario vom Schrumpfgermanen positive Seiten abgewinnen können: Der demografische Wandel, meinte Köhler auf einer von der Bertelsmann-Stiftung veranstalteten Konferenz Anfang Dezember, berge auch Chancen, wenn wir etwa die Kreativität Älterer besser nutzten. Den Rückgang der Bevölkerung hierzulande könne man vielleicht als Ausgleich für das Wachstum der übrigen Weltbevölkerung ansehen, so die beinahe schon ketzerisch anmutende Äußerung des Staatsoberhaupts. CLAUDIA PINL