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Archiv-Artikel

Von Wölfen und Rehen

Dekorativ, visuell einprägsam, auf den sinnlichen Zuspruch des Betrachters zielend und mit Hang zu privaten Mythologien im Miniaturformat: Ab heute ist die vierte Berlin Biennale zu sehen

Der Biennale geht es in einem seltsam naiven Hunger nach Authentizität um das echte und wahre Leben

VON HARALD FRICKE

Necrosodomy? Nie gehört. Und wer soll die Saat von Azagthoth sein? Keine Ahnung. Ansonsten viele Wörter für faulendes Fleisch, aber auch interessant klingende Tötungstechniken wie „pneumatic slaughter“. Steven Shearer stammt aus New Westminster, einem kanadischen Provinznest, gleich hinter der US-Grenze, in British Columbia. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Sprache des Death Metal. Jetzt hat Shearer das satanische Geheimwissen für eine breite Öffentlichkeit sichtbar gemacht: Auf einer 500 Quadratmeter großen Brandmauer an der Oranienstraße kann man sein „Poem“ aus lauter Slogans lesen, die in Songtexten oder auf Homepages und in Chatforen der dazugehörigen Szene zirkulieren. Der böse Rock-Underground erhebt sich, seine Botschaft lautet: „blasphemy made flesh“, in weißen Lettern auf schwarzem Grund geschrieben. Willkommen zur 4. Berlin Biennale.

Wütend sein, provozieren wollen, den Betrachter mit wuchtigen Statements irritieren. Ein guter Anfang für eine Ausstellung, die sich auf 13 Orte entlang der Auguststraße in Berlin-Mitte verteilt. Eineinhalb Jahre haben Massimiliano Gioni, Ali Subotnick und Maurizio Cattelan als kuratorisches Team daran gearbeitet, dass sich 84 Künstler und Künstlerinnen – viele von ihnen wurden in den späten Siebzigerjahren geboren – auf dem Areal austoben dürfen, das vor fünf Jahren noch als Hot Spot der Gentrifizierung galt.

Mittlerweile ist es hier still geworden, die Auguststraße ruht unter einer Käseglocke der Musealisierung. Deshalb fanden schon Monate im Voraus einige situationistische Aktionen statt, die für die heute eröffnende Biennale Werbung waren. Mit „Checkpoint Charley“ kam ein 700 Seiten dicker Reader als Who-is-who-Liste der Berliner Kunstwelt heraus, und im Stil von Guerilla-Marketing wurde kurzerhand eine Filiale der Gagosian Gallery gegründet, wobei Larry Gagosian immerhin der größte Kunsthandelsmulti der USA ist. An dieser Umtriebigkeit merkte man schnell, dass die Ausstellungsmacher Gioni und Subotnick das Spiel mit Aufmerksamkeitsstrategien beherrschen, Maurizio Cattelan war als ausgebildeter Künstler in begleitenden Interviews für den Quatschfaktor zuständig.

Den Rest erledigten die drei New Yorker Coolhunter nebenher, mit Geduld und Routine. Sie haben Genehmigungen vom Straßenamt eingeholt, um einen Baucontainer aufzustellen, in dem der in Rotterdam lebende Erik van Lieshout sein Video zeigen kann, das als Tagebuch auf einer Radtour nach Rostock entstanden ist – atmosphärisch wackelnde Digicam-Bilder, abendliche Haschgelage und zeternde Ostdeutsche inklusive. Sie haben mit Anwohnern die Nutzung mehrerer Privatwohnungen ausgehandelt, sie haben einen Saal im Ballhaus Mitte gemietet, in dem ein Pärchen sich nach Vorgaben des Konzeptkünstlers Timo Sehgal performativ auf dem Boden wälzt und küsst, sieben Stunden täglich, dann ist Ende der Liebesschicht. Sie haben den „Förderverein Alter Berliner Garnisonsfriedhof e. V.“ überzeugen können, dass auf der 280 Jahre alten Ruhestätte Susan Philipsz in einer Soundinstallation über den Gräbern depressive Radiohead-Hits singt.

Schon weil von diesem zähen Ringen um Auflagen und Bewilligungen nichts zu merken ist, weil vom Kellergewölbe bis zum vermoderten Pferdestall jeder Videobeamer funktioniert und jede Hängung stimmt, kann man nur sagen: toll gemacht, Danke schön. Aber reicht organisatorische Cleverness für eine Ausstellung, die hauptstädtischer „Leuchtturm“ sein will, wie es der Kulturstaatsminister anerkennend in seinem Vorwort zum Katalog nennt? Es gab genügend Geld von der Bundeskulturstiftung und dem Hauptsponsor BMW; es gab mit den Kunst-Werken eine Institution, die unter ihrem früheren Direktor Klaus Biesenbach bereits drei Biennalen mit weniger Budget gestemmt hat; und es gab reichlich Unterstützung durch internationale und hiesige Galerien, dazu Sammler und Museen, die Leihgaben wie Bruce Naumans raffinierte Plexiglas-/Video-Installation „Rats and Bats“ (1988) oder Paul McCarthys mechanisch mit den Wänden klappernden „Bang-Bang Room“ aus dem Jahr 1992 möglich gemacht haben.

Ein gemeinsamer Nenner, ein Thema oder gar Programm ist jedoch nirgends zu erkennen. „Von Mäusen und Menschen“, so der Untertitel nach einer Erzählung von John Steinbeck, ist vor allem Ornament. Ein „Monster mit vielen Gesichtern“ (Gioni), das durch die zahllosen Räume und Apartments mäandert. Visuell einprägsam, oft dekorativ und mit einem Hang zu privaten Mythologien im Miniaturformat. Nicht von Ungefähr hat Kai Althoff als ein Meister erratischer Bild- und Objektassemblagen gemeinsam mit Lutz Braun eine Plattenbauwohnung komplett in einen Schauermärchenkosmos umgemodelt, der von lässig platzierten Pornoheften über Basteleien in Ton und balinesische Scherenschnittzitate bis zum kinderladentauglichen Farbgematsche an den Fenstern reicht. Die Welt als Wille und Happening, irgendwo läuft auch noch ein Fernseher, auf dem Althoff bei einem hübsch choreografierten Ausdruckstanz zu sehen ist.

Geschickt überlagern sich bei Althoff/Braun kunsthistorische Verweise, wuchern für erledigt gehaltene Ismen und Attitüden wie Schimmel einer fernen Vergangenheit. Zugleich ist es radikale Verweigerung, die von der Hermetik profitiert: In meinem Chaos bin ich Kapitän. Der Besucher muss derweil Schlange stehen, Zutritt ist nur jeweils drei Personen erlaubt, das fördert die Exklusivität und verstärkt den Erlebnischarakter. Tatsächlich kommt man von süßlichen Vanillenebeln und dem Gestank von vergorenem Schnaps benommen zurück auf die Straße.

Vielleicht ist diese Tauchfahrt in die Eingeweide der Esoterik exemplarisch für die 4. Berlin Biennale. Lange schon war eine Ausstellung nicht mehr dermaßen auf Effekte aus, wurde das Publikum von obsessiven Phantasmagorien so sehr in Beschlag genommen. Nachdem die letzte documenta die Politikfähigkeit zeitgenössischer Kunst beweisen sollte und die von Ute Meta Bauer 2004 geleitete 3. Berlin Biennale als Themenpark zur Stadtsoziologie angelegt war, haben sich Gioni, Subotnick und Cattelan vom Primat der Theorie verabschiedet. „Es ist an der Zeit, den Rückzug anzutreten und sich im Inneren zu verstecken“, lautet ihre Devise, wofür der belgische Maler Michael Borremans mit überdimensionalen Häusern und merkwürdig aus dem Maßstab gerutschtem Personal die passende Allegorie liefert. Denn auch das Innen erkennt man nur an der Unruhe, den Spannungen und Verformungen, die sich auf der Oberfläche abzeichnen.

Kunst, die dagegen soziale Handlungsräume aufzeigt oder nach gesellschaftlichen Kontexten fragt, das war gestern. Statt dessen besinnt man sich aufs Kerngeschäft, das Zauberwort heißt: Imagination. Wozu Überbau? Was zählt, ist das Auge und der sinnliche Zuspruch des Betrachters. Entsprechend geschmackvoll wechseln sich Fotos, Zeichnungen, feingliedrige Skulpturen und hin und wieder Videos ab. Überall wird viel in der eigenen Biografie geforstet, werden Kindheitstraumata in pathetischen Bühnensettings abgearbeitet, in krause Erinnerungscollagen transformiert oder als niedliche, gerne auch ein bisschen obszöne Pornoplots und Knetgummianimationen inszeniert. Bei Nathalie Djurberg leckt ein Trickfilmtiger einen Mädchenhintern zur Drehorgelmusik, bei Thomas Zipp wird der Reaktorunfall von Tschernobyl mit düster gemalten Fratzen wiederaufbereitet, die er auf einem zur Wandtapete vergrößerten Originalfoto vom Unglücksort drapiert hat.

Keine Frage, das Timing stimmt. 20 Jahre nach der Katastrophe wirkt Zipps Arrangement wie eine surrealistische Mahnwache. Doch vor einer konsequenten Auseinandersetzung mit den politischen, wenn nicht ökonomischen Zusammenhängen in Sachen Atomkraft schreckt das Ensemble zurück. Nichts soll eindeutig sein, zur Not bleibt das Dargestellte eben exotisch und fremd.

Das gilt überhaupt für viele Arbeiten, die neben Zipps Rauminstallation in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule präsentiert werden. Offenbar war ein gewisser historischer Grusel von den Kuratoren durchaus erwünscht: Wo bis zur Schließung 1942 durch die Nazis noch Kinder der jüdischen Gemeinde unterrichtet wurden und in der DDR die Bertolt-Brecht-Schule untergebracht war, hat Robert Kuśmirowski den Nachbau eines Viehwaggons auf original polnischen Bahnschienen aufgebockt.

Das Problem liegt nicht im Triumph des perfekt simulierten Schreckens. Der Biennale geht es in einem seltsam naiven Hunger nach Authentizität um das echte, wahre, unhintergehbar gelebte Leben. „Man wird geboren, man lebt, und dann stirbt man“, dieser in seiner Schlichtheit verführerische Satz der Kuratoren wird von den Exponaten unendlich oft variiert. Alles fügt sich zur Illustration dieser doch banalen Erkenntnis: Im Erdgeschoss der Kunst-Werke kann man auf Dokumentarfotos von Corey McCorkle zusehen, wie seiner Frau bei der Geburt das Baby brutal aus dem Unterleib gezogen wird, während zwei Stockwerke höher auf Benjamin Cottans winzigen Zeichnungen die Gesichter von verstorbenen Künstlern wie Gespenster aus dem Jenseits erscheinen. Ob rauer Alltag oder zart gewobene Poesie: Ständig schließt sich der Kreis, werden selbst verspielte Low-Budget-Fiktionen mit beinhart existenzialistischer Horrorshow abgeglichen, bis sich die Ausdrucksmittel gegenseitig aufheben.

Manchmal gelingt die Balance, ein Knistern im Zustand der Schwebe. Etwa in dem zweistündigem Video „Deeparture“, für das der 1977 in Rumänien geborene Mircea Cantor einen Wolf und ein Reh in einem leeren weißen Raum gefilmt hat. Die Tiere sind extrem nervös: Liegt es an ihrer Witterung? Versagen die Triebe? Oder haben sie womöglich beide Angst vor der Kamera? Der Film verwirrt das Verhältnis von Wölfen und Rehen, indem er es zur Darstellung bringt. Das ist ein Hieb gegen die vermeintliche Naturgegebenheit des Sichtbaren, der auf dieser Biennale mit ihrer kunterbunten Puppenstuben-, Schmodder- und Spukhausromantik und dem vielen Bilderspeck, mit dem man eher Menschen als Mäuse fängt, noch lange nachhallt.

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