: Eine heuchlerische Moral
Der englische Ökonom John Maynard Keynes analysiert in seinem eindrücklichen Essay „Krieg und Frieden“, wie der Versailler Vertrag wesentlich zum Aufstieg Adolf Hitlers beitrug
Es gehört in Deutschland zum guten Ton politischer Korrektheit, den unseligen Versailler Vertrag nicht allzu sehr für die nachfolgenden Ereignisse in Anspruch zu nehmen. Hitlers Aufstieg, das war deutsches Versagen, nicht alliiertes Missmanagement.
Nun ist es bestimmt richtig, darauf zu achten, dass die Täter unter der Hand nicht zu Opfern werden und sechs Millionen ermordete Juden nicht zur zwangsläufigen Folge einer Politik, die 1919 in Versailles ihren Ausgang nahm. Es ist jedoch sehr verdienstvoll, einen Text in das historische Bewusstsein zurückzuholen, dessen Autor nicht im Verdacht steht, an deutscher Schuld herumzuwaschen: John Maynard Keynes.
Sein 1919 auf Englisch erschienener Essay „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages“ belegt eindrücklich das Desaster eines missratenen Friedens, der anders als sein Vorgänger von 1815 auf das Rachebedürfnis der Wähler Rücksicht nehmen musste. Schon deshalb war er gescheitert, noch ehe die Tinte unter dem Vertragswerk zu trocknen begann.
Dabei ist es am Ende nicht einmal die Härte der Bedingungen – Deutschland verlor ein Siebtel seines Gebietes und ein Zehntel seiner Bevölkerung, seine Flotte, die Kolonien und büßte 50 Prozent der Eisenerzversorgung und 25 Prozent der Steinkohleförderung ein –, es war das unausgegoren Verdruckste, das Heuchlerische, das diesen Vertrag in der Propaganda der Rechten zum jederzeit abrufbaren „Schanddiktat“ werden ließ. Auf diese Weise schuf der Vertrag eben doch den Resonanzboden, auf dem der braune Trommler Demokraten und Republikaner als „Erfüllungspolitiker“ bekämpfte.
Man hätte das Bismarckreich auflösen, es für unverträglich mit Europas Frieden erklären und die alten reichsständischen Bestandteile zu neuen Staaten ausrufen können, ein Siegfrieden, wie er Preußen auferlegt worden wäre, hätte Russland nicht 1762 die Koalition verlassen. Oder man hätte einen Versöhnungsfrieden schließen können, Schadenersatz und Elsass-Lothringen ja, aber Rache nein, so wie die Sache ursprünglich in den 14 Punkten Woodrow Wilsons angelegt war. Doch man schuf einen Zwitter, ungerecht nicht durch Härte, sondern durch Heuchelei.
Keynes nennt Beispiele. Statt zu sagen: Es wird Deutsch-Österreich verboten, sich mit Deutschland zu vereinigen, außer mit Erlaubnis Frankreichs, heißt es, dass „Deutschland die Unabhängigkeit Österreichs in den durch Vertrag zwischen diesen Staaten und den alliierten und assoziierten Hauptmächten bestehenden Grenzen anerkennt und sich verpflichtet, sie unbedingt zu achten; es erkennt an, dass diese Unabhängigkeit unabänderlich ist, es sei denn, dass der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt“. Das klingt anders, kommt aber auf dasselbe heraus. Nachdem Deutschland sich den 14 Punkten Wilsons unterworfen hatte, war es das Ziel Frankreichs, einen Siegfrieden durchzusetzen, ohne das Gewissen des amerikanischen Präsidenten zu belasten.
Das Ergebnis war schlimmer als der Frieden von Brest-Litowsk, da es einen moralischen Anspruch aufrechterhielt, ohne ihn einzulösen. So porträtiert der englische Aristokrat Keynes US-Präsident Wilson als „Geistlichen einer Dissidentenkirche“, der plötzlich oberster Weltenrichter wurde. Das ist nicht bloß ironisch-sarkastisch, sondern letztlich vernichtend. Selten war ein Staatsmann so ungeeignet, die von ihm propagierte Friedensordnung durchzusetzen.
Über die Vorschläge, die Keynes zur Revision des Vertrages macht, ist die Geschichte hinweggegangen – seine Analyse jedoch ist nach wie vor brillant. Adolf Hitler musste nicht gewinnen, doch dass die Chancen der Republik von Anfang an bescheiden waren, hat viel mit einem Vertragswerk zu tun, dass den Deutschen den Stolz und die Ehre, aber nicht die Möglichkeit zu grausamer Rache nahm. Vor diesem Fehler hatte schon Machiavelli in seinem Werk „Der Fürst“ gewarnt, aber wer lernt schon aus der Geschichte.
ALEXANDER GAULAND
John Maynard Keynes: „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages“. A. d. Engl. von M. J. Bonn und C. Brinkmann. Berenberg 2006, 158 Seiten, 19 Euro