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Archiv-Artikel

Wasser darf kein Luxusgut sein

Schmutziges Wasser und fehlende Sanitäranlagen sind das größte Problem unserer Zeit. Auch in den reichen Industrienationen sollte dies endlich zu einem Umdenken führen

Schmutziges Wasser fordert jeden Tag mehr Menschenleben als Terrorismus und Krieg zusammenIm Slum von Kibera zahlt man dreimal so viel für einen Liter Wasser wie in London oder Manhattan

Seien wir ehrlich: Niemand von uns hat seinen Tag mit einem Zwei-Meilen-Marsch begonnen, um sich an einem Bach mit dem täglichen Bedarf an Wasser für die ganze Familie einzudecken. Keiner von uns musste ein Feld, den Straßenrand oder eine Plastiktüte als Toilette benutzen. Und unsere Kinder müssen nicht sterben, weil sie ohne ein Glas sauberes Wasser und andere grundlegende Hygienestandards auskommen müssen. Vielleicht haben wir auch deshalb nur ein eingeschränktes Bild davon, wie eine „Wasserkrise“ aussieht.

Doch allein in den nächsten 24 Stunden werden 4.000 Kinder sterben, weil verschmutztes Wasser bei ihnen Durchfall verursacht hat. Die Zahl der Todesopfer, die diese humanitäre Katastrophe fordert, ist höher als die Bevölkerung einer Stadt wie Birmingham. Schmutziges Wasser stellt eine größere Bedrohung für menschliches Leben dar als Krieg oder Terrorismus. Und trotzdem wird diese Tatsache in den reichen Ländern so gut wie nicht wahrgenommen.

Die Statistik ist ernüchternd. Anfang des 21. Jahrhunderts haben rund 2,6 Milliarden Menschen noch nicht einmal Zugang zu einer einfachen Latrine, über 1 Milliarde Menschen keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser. Die Millenniums-Entwicklungsziele sehen vor, diese Zahl bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Doch hinter dieser Vorgabe hinkt die Welt noch stark zurück.

Der ungleiche Zugang zu Wasser spiegelt die großen Ungleichheiten in der Welt. In Großbritannien verbraucht eine Person im Schnitt 160 Liter sauberes Wasser pro Tag. Im ländlichen Mosambik oder Äthiopien müssen die Menschen täglich mit 5 bis 10 Litern Wasser auskommen, die von Frauen und jungen Mädchen mühsam von Seen und Flüssen herangetragen werden.

Die sanitäre Situation weltweit ist noch erdrückender. Die rapide Urbanisierung und eine dem Kollaps nahe sanitäre Infrastruktur in Städten wie Jakarta, Manila, Nairobi und Lagos bedrohen Millionen von Menschen, die in hoffnungsloser Armut leben, mit Fäkalien-infiziertem Wasser. Unter diesen Bedingungen ist es noch gravierender, dass die Armen zudem meist einen höheren Preis für Wasser zahlen als die Reichen. Im kenianischen Kibera, dem größten Slum Afrikas, zahlt man für Wasser das Dreifache dessen, was es in Manhattan oder in London, und das Zehnfache dessen, was es in den wohlhabenden Vorstädten von Nairobi kostet. Ähnliches gilt für die meisten Entwicklungsländer. Der Grund: Die Wasserbetriebe pumpen ihr billiges, subventioniertes Wasser zu den wohlhabenden Kunden; die Armen erreichen sie nur selten. Die meisten Slumbewohner stehen deshalb vor der Wahl, ihr Wasser bei teuren privaten Händlern zu kaufen – oder aber zum nächsten Fluss zu gehen.

Diese Disparität in der Wasser- und Sanitärversorgung zu überwinden ist auch ein moralischer Auftrag. Um das Millenniums-Entwicklungsziel zu erreichen, müssten im nächsten Jahrzehnt etwa 4 Milliarden Dollar jährlich ausgegeben werden. Dies entspricht in etwa der Summe, die jeden Monat für abgefülltes Mineralwasser in Europa und den USA ausgegeben werden. Ein Bruchteil dieser Summe würde also schon ausreichen, um das Todesrisiko von Kindern zu mindern. Jeder Dollar, der hier investiert wird, würde an anderer Stelle 3 bis 4 Dollar an Gesundheitsausgaben sparen oder durch erhöhte Produktivität einbringen.

Weshalb also kommt hier der Fortschritt nur so langsam voran? Zum Teil natürlich, weil dieses Problem vor allem arme Menschen betrifft. Die Regierungen im subsaharischen Afrika und andernorts neigen dazu, ihr subventioniertes Wasser den Reichen zukommen zu lassen, anstatt den Armen einen allgemeinen Zugang zu Wasser zu ermöglichen. Die niedrige Priorität, die Wasser und Sanitärwesen beigemessen wird, spiegelt sich im Staatshaushalt sowie in der chronischen Unterfinanzierung der Infrastruktur wider.

Auch die Entwicklungshilfe hat hier versagt. Der Ausbau der Infrastruktur erfordert massive Anschubinvestitionen mit Rückzahlungsfristen von 20 Jahren und mehr. Tatsächlich jedoch hat sich der Anteil der Hilfe in diesem Sektor seit 1997 real halbiert. Noch schlimmer: Die Wege der Hilfsströme entsprechen nicht dem Bedarf. Das subsaharische Afrika weist die größten Finanzlücken auf, doch diese Region erhält nur 15 Prozent der Hilfe.

Die alten Debatten um öffentliche oder private Förderung bringen uns da nicht weiter. Privatisierung ist keine Wunderwaffe, aber in manchen Fällen kann sie helfen, die Effizienz zu erhöhen. Auf der anderen Seite zwingen die Mängel und die Unterfinanzierung im öffentlichen Bereich die Armen oft genug in die privatwirtschaftlichen Wassermärkte – mit unheilvollen Konsequenzen.

Wasser ist keine gewöhnliche Ware, denn es bedeutet Leben, Menschenwürde und gleiche Lebenschancen. Deshalb ist es viel zu wichtig, um allein dem Markt überlassen zu werden, und deshalb sind die Regierungen letztlich verantwortlich dafür, den Zugang zu Wasser sicherzustellen. Die menschlichen Bedürfnisse, nicht die Zahlungskraft muss das wegweisende Prinzip sein.

Südafrika hat dafür einen Weg gezeigt: Hier wurden Gesetze geschaffen, die alle öffentlichen und privaten Betreiber verpflichten, ein Minimum an Wasser frei zur Verfügung zu stellen. Auch in Senegal und Manila ermöglichen neue, öffentlich-private Partnerschaften Armen den Zugang zu Wasser durch eine etwas höhere Besteuerung der Reichen. Umverteilung mag heute aus der Mode gekommen sein. Doch die Umwandlung öffentlicher Gelder für Wasser, das nur den Reichen zugute kommt, in öffentliche Investitionen für die Armen würde den Fortschritt beschleunigen und die eklatanten Ungleichheiten beseitigen, die heute so viele Länder plagen.

Vor allem aber brauchen wir politische Führungskraft. Im 19. Jahrhundert brachte die Wasser-und Sanitärkrise in Großbritannien neue, mächtige Koalitionen hervor, in denen Kommunen, Industrielle und Sozialreformer zusammenfanden. Diese Koalitionen bildeten eine treibende Kraft für den Wandel, für umfangreiche neue Investitionen und Kontrollsysteme. Bürgerpflicht, wirtschaftliches Eigeninteresse und sittliche Pflicht führten dazu, dass Wasser und Sanitär zu einer nationalen Aufgabe gemacht wurde.

Neue soziale Bewegungen und Bündnisse von Regierungen und Zivilgesellschaften haben heute damit begonnen, dieses Problem anzugehen. Diese Initiativen müssen gestärkt und vertieft werden. Doch neben globalen Führungskräften brauchen wir in den reichen Ländern des Nordens auch eine gut informierte Öffentlichkeit, damit Wasser und Sanitär auf der Liste der Prioritäten weiter nach oben geschoben wird.

Vielleicht sollten wir in Zukunft also weniger baden und sparsamer mit unserem Gartenschlauch umgehen. Aber niemand von uns sollte eine Welt akzeptieren, in der über eine Million Kinder sterben, nur weil ihnen ein Glas Wasser und eine Toilette fehlen. KEVIN WATKINS