: Huhn und Hochwasser
VON CHRISTIAN RATH, CHRISTIAN FÜLLER, NICK REIMER
1. Kann der Bundesrat künftig wirklich seltener Gesetze blockieren?
Schön wär’s. Nur wenn dieses Ziel erreicht wird, hat sich die Föderalismusreform gelohnt. Bisher benötigten bis zu 60 Prozent der Bundesgesetze die Zustimmung der Länderkammer, was die Gesetzgebung oft in die Länge gezogen oder ganz verhindert hat. Künftig sollen es nur noch 35 bis 40 Prozent sein. Doch Experten befürchten, dass die Blockademacht des Bundesrats eher wächst. Künftig werden zwar manche Vetorechte der Länder reduziert. An anderen Stellen aber werden neue Vetorechte eingeführt, zum Beispiel wenn der Bund die Länder zu Ausgaben für Kinderbetreuung und Asylbewerberversorgung verpflichtet.
2. Versinkt Hamburg jetzt öfter in den Elbfluten?
Durch die Föderalismusreform wird eine Parallelgesetzgebung auch beim Hochwasserschutz möglich. Die Auswirkung sind dort besonders drastisch: Vorsorgender Hochwasserschutz kostet viel Geld, bringt aber immer nur dem nächsten Bundesland im Flussverlauf etwas. Weite, effektive Überschwemmungspolder kosten beispielsweise in Sachsen viel Geld. Nutznießer wäre aber Sachsen-Anhalt: Dank der Polder kann eine Elbflut in die Breite laufen, der Fluss wird langsamer, die Überschwemmungsgefahr geringer.
Bislang gibt der Bund Mindeststandards vor, die jedes Land zugunsten der anderen einhalten muss. Die Föderalismusreform kippt das: Praktisch müsste niemand mehr für seinen Nachbarn sorgen. Kümmert sich Sachsen nicht um Sachsen-Anhalt und Sachsen-Anhalt nicht um Niedersachsen, kommt die Elbe ganz schnell in Hamburg an.
3. Droht nun die Zweiteilung in Luxus- und Massenknäste?
Künftig dürfen die Länder eigene Gesetze zum Strafvollzug beschließen. Bisher galt das Bundesgesetz. Luxusknäste aber wird es nirgends in Deutschland geben. Im Gegenteil: Experten fürchten, dass künftig alle Länder die Standards im Strafvollzug heruntersetzen. Es könnte einen „Wettlauf der Schäbigkeit“ geben. Der Bund hatte keinen Anreiz, die Standards für Gefängnisse zu senken, weil die Kosten ja bei den Ländern anfallen.
4. Müssen Studenten jetzt immer an derselben Uni bleiben?
So schlimm wird’s wohl nicht kommen. Bisher konnte der Bund Abiturienten und Studierwilligen Ortswechsel durch ein halbwegs einheitliches Recht leicht machen. Das tat er über das Hochschulrahmengesetz (HRG), an das sich die Länder zu halten hatten. Das HRG aber wird künftig entfallen. Und selbst bei den beiden verbliebenen Zuständigkeiten des Bundes, der Hochschulzulassung und den Hochschulabschlüssen, dürfen die Länder künftig abweichen. Das heißt konkret: Dass Bayern seine Abiturienten beim Medizinstudium bevorzugt, ist bislang noch ein Einzelfall. Künftig aber wird es das womöglich häufiger geben.
5. Wo entstehen die vielen glänzenden Hochschul-Neubauten, die das Land braucht?
Im Süden! Der wird durch die Neuregelung eindeutig bevorzugt. Dem Norden und Osten, aber auch Nordrhein-Westfalen wird es indes viel schwerer gemacht, in ihre Universitäten zu investieren. Wie kommt das? Künftig bekommen die Länder einen 700 Millionen Euro großen Topf für Hochschulbau vom Bund. Das bringt zwei Probleme. Erstens fließt das Geld nach einem komplizierten Verteilungsschlüssel – bei dem die beiden reichen Südstaaten Bayern und Baden-Württemberg zusammen über 60 Millionen jährlich mehr bekommen, als ihnen laut Studierendenanteil zustehen würde. NRW bekommt dafür 80 Millionen Euro weniger. Zweitens entfällt die hälftige Kofinanzierung durch die Länder. Die neuen Regeln zum Hochschulbau gehören zum Verrücktesten, was die Föderalismusreform zu bieten hat.
6. Können Chemie-Unternehmer künftig billiger Fabriken bauen?
Bislang gilt im Planungsrecht: Bundesrecht bricht Landesrecht. Will also ein Unternehmer irgendwo in Deutschland ein neues Werk bauen, müssen seine Investitionspläne gewisse Standards im Raumordnungsverfahren einhalten. Der Abstand zur nächsten Siedlung, die Schutzmaßnahmen gegen eine Grundwasserverseuchung oder die Anzahl der Bäume, die als Ausgleich dienen, sind einheitlich geregelt. Mit der Föderalismusreform werden diese Bundesstandards aufgeweicht. Dank einer so genannten Abweichungs-Gesetzgebung können die Länder Sonderregelungen und Ausnahme-Tatbestände definieren. Ein Zugeständnis hier, ein Bonbon da – die Unternehmer dürfen auf großzügige Angebote im Planungsrecht hoffen. In weiten Teilen Ostdeutschlands etwa gilt heute schon Arbeitslosigkeit als die schlimmste Umweltsünde. Die Landespolitik dürfte zu manchen Kompromissen bereit sein, damit sich neue Firmen ansiedeln.
7. Können Chemie-Unternehmer ihre neue Fabrik künftig auch schneller bauen?
Die Möglichkeit einer abweichenden Gesetzgebung hat zur Folge, dass es im Extremfall 16 verschiedene Raumordnungsgesetze gibt. Das heißt für den Investor: Er muss sich erst einmal in diesem Dschungel zurechtfinden. Schon heute argumentiert die Wirtschaft, dass das Planungsrecht in Deutschland viel zu kompliziert sei. Dieses Investitionshemmnis könnte künftig noch deutlich größer sein. Doch auch Polen, Tschechen oder Ungarn freuen sich über Investoren. In Deutschland sind sich deshalb – erstmalig – Wirtschaftsvertreter und Umweltschützer einig: Diese Reform schadet der Ökonomie gleichermaßen wie der Ökologie.
8. Geht es den bayerischen Rebhühnern künftig besser?
Durchaus möglich: Einige Bundesländer wie Bayern oder Hamburg sehen in ihrer Landesverfassung weit reichende Möglichkeiten der Volksgesetzgebung vor. Das bedeutet: Erzielt ein Volksentscheid die notwendige Mehrheit, muss das Parlament die Gesetze entsprechend ändern. Umweltschützer haben schon mal laut über ein Volksentscheid gegen den Abschuss von Rebhühnern nachgedacht. Bislang wäre der allerdings unsinnig gewesen: Bundesrecht bricht ja Landesrecht, und nach Bundesrecht dürfen Rebhühner in einheitlich festgelegten Zeiträumen gejagt werden. Dank föderaler Reform aber hat Bayern das Recht auf Abweichung – und so den Volksentscheid im Nacken.
9. Hilft die Föderalismusreform also den Tieren und der Umwelt?
Sie hilft allenfalls den Juristen. Dank der Reform nämlich wird Umweltrecht wesentlich umfangreicher und zersplitterter. Und das, obwohl Umweltprobleme nicht an den Landesgrenzen anhalten. Offenbar ist der Umweltbereich einem taktischen Kalkül geopfert worden: Er soll die Kompetenzverluste der Länder an anderen Stelle ausgleichen.
10. Wer zahlt künftig die EU-Strafen?
Wenn in Deutschland EU-Richtlinien nicht richtig oder zu spät umgesetzt werden, kann die EU Zwangsgelder verhängen. Die Rechnung geht immer an Deutschland als Gesamtstaat. Jetzt wird im Grundgesetz festgeschrieben, dass intern für die Strafen immer derjenige aufkommen muss, der den konkreten Fehler gemacht hat, zum Beispiel der Bund oder das Saarland. Eine andere Regel wird aber für mögliche Strafzahlungen wegen überhöhter Haushaltsdefizite gelten. Hier sollen Bund (35 Prozent) und Länder (65 Prozent) die Strafe gemeinsam bezahlen.
11. Dürfen Landtagsabgeordnete bald endlich wieder Gesetze machen?
Bisher galt eine klare Arbeitsteilung: Der Bund macht die Gesetze, die Länder führen sie aus. Landtagsabgeordnete hatten kaum etwas zu tun. Sie konnten im Wesentlichen nur Schule, Polizei und Rundfunk durch eigene Gesetze regeln. Mit der Föderalismusreform sollen die Abgeordneten der 16 Landtage jetzt aber zahlreiche zusätzliche Politikfelder gestalten dürfen: Hochschule, Beamtenbesoldung, Strafvollzug, Demonstrationsrecht und vieles andere mehr. Deutschland wird so eine Ansammlung von Kleinstaaten. In manchen Politikfeldern wie dem Umweltrecht droht künftig sogar eine absurde Pingpong-Gesetzgebung. Hier soll zwar der Bund die Gesetze machen können, aber die Länder dürfen, wenn sie wollen, mit eigenen Gesetzen davon abweichen. Wenn dem Bund die Ländergesetze nicht gefallen, kann er aber wieder ein Bundesgesetz machen, das Vorrang hat. Davon dürfen die Länder wiederum abweichen.
12. Kann die Reform jetzt noch scheitern?
Das ist fast unmöglich. Zwar gibt es selbst in der Spitze der großen Koalition schwere Bedenken, wie sinnvoll die Neuregelungen sind. Aber die Koalition hat ihr ganzes Prestige an das Gelingen der Föderalismusreform geknüpft. Entsprechend ruppig ist die Gangart geworden. Die Ministerpräsidenten, von denen nur zwei noch öffentliche Zweifel an der Reform äußern, setzen den Bundestag unter Druck, „das Föderalismuspaket auf keinen Fall mehr aufzuschnüren“. Ähnlich gehen die Regierungsfraktionen von SPD und Union mit ihren föderalismuskritischen Minderheiten um.
13. Ist nun endlich Schluss mit Föderalismusreformen?
Nein, ganz im Gegenteil. Jetzt geht’s erst richtig los. Die FDP etwa knüpft ihre Zustimmung des ersten Teils der Föderalismusreform an die Bedingung, dass sofort eine zweite Runde eingeläutet wird. Auch die so genannten Geberländer Hessen, Baden-Württemberg und Bayern wollen gleich weitermachen. Sie haben keine Lust mehr, Milliardensummen an die armen Bundesländer umzuverteilen. Bayern und Baden-Württemberg reichten im Jahr 2004 jeweils über 2 Milliarden Euro weiter, Hessen 1,5 Milliarden. Auf dem Kieker haben die reichen Länder den althergebrachten Länderfinanzausgleich. Stattdessen fordern sie eigene Steuerrechte und mehr Wettbewerb. Allerdings: Experten meinen, das gehe ohnehin nur bei annährend gleich großen Bundesländern, und rufen daher bereits nach Föderalismusreform, Teil III – der Länderneugliederung.