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Archiv-Artikel

Der Glanz des Gloria

Es ist das letzte Kino in Rotenburg an der Wümme. Man darf dort rauchen, und Generationen haben dort als Kinder ihre ersten Filme gesehen. Und die ersten Filme mit ihren Kindern. Bald kommt ein Supermarkt hin, und das Gloria Cinema muss weichen

Ein anderes Kino wird es wahrscheinlich geben. In einer alten Lagerhalle vielleicht. Nur Das Kino ist dann weg

von Anja Philipp-Kindler

Das Kino wird abgerissen. Nicht irgendein Kino. Das Kino. In Rotenburg gibt es nur noch eins. Rotenburg, die 23.000 Einwohner zählende Kreisstadt an der Wümme, hatte mal drei Kinos. Im März 2007 wird das letzte platt gemacht.

Das Kino – in Rotenburg sagt niemand Gloria Cinema, wie es eigentlich heißt –- steckt in einem schlichten weiß getünchten Gebäude. Gebaut wurde es um 1900 und beherbergte bis 1957 einen Tanzsaal. Seitdem ist es Das Kino. Die Fassade rund um den Eingang haben Trendsetter in den 60er Jahren mit braunen Kacheln beklebt. Es wirkt irgendwie muffig, obwohl es 1997 innen bis hin zur Popcornmaschine komplett renoviert wurde. Hier und da ist Farbe von den Fußleisten abgeplatzt, die Zettel mit den Anfangszeiten der Filmvorführungen kleben mit Testfilmstreifen an den Eingangstüren. Der alte Charlie-Chaplin-Aufsteller steht im Foyer, vorsorglich an der Tür angekettet.

Und auch sonst. Das Kino ist nicht schön, aber einzigartig. Das Kino ist eine Kinothek. Die kleinen Holzablagen vor den 210 braunen Sesseln sind mit Lampen und Klingelschaltern bestückt. Per Klingel kann nahezu das gesamte Getränkerepertoire einer Kneipe geordert werden. Nur die Zigaretten muss der Cineast im Foyer am Automaten ziehen.

Ja, Zigaretten. Die sind im Kino erlaubt. Wenn auch nur noch abends in besonderen Zonen. Früher war das anders. Da konnte immer und überall im Haus gequalmt werden. Das geht jetzt nur noch im kleinen Bruder des Kinos, dem Kino II im selben Haus. 70 Sitzplätze gibt es hier und Aschenbecher überall. Hier ist es so eng wie in jedem anderen Kino auch, in dem der Zwei- Meter-Mann schon mal Probleme mit seinen langen Beinen hat. Nicht so im großen Kinosaal. Hier kann sich auch der längste Lulatsch bequem ausstrecken.

Seit 1987 ist Rainer Balcke Betreiber des Hauses. Der 62jährige gelernte Einzelhandelskaufmann kam durch seinen Schwiegervater zu seiner Filmleidenschaft. „Wilhelm Eggers hat 1928 in Rotenburg mit dem Kinobetrieb angefangen. Zuerst zeigte er Stummfilme im Rotenburger Hof, später kam dann ein Saal mit 700 Plätzen am Neuen Markt hinzu“, erzählt Balcke. Das Capitol am Marktplatz betrieb Eggers auch als Theater „mit festem Spielplan“, wie Balcke betont. Ballettaufführungen waren in den 60er Jahren in Rotenburg ebenso gang und gäbe wie Theatergastspiele von Maximilian und Maria Schell.

Beide Kinos gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Beide Häuser wurden verkauft, nun bieten dort Drogerieketten Shampoos und Tampons an. Dem Gloria-Cinema geht es im kommenden Jahr an den Kragen. Der benachbarte Penny-Markt platzt aus allen Nähten und braucht mehr Platz. Den bekommt der Discounter. Und Das Kino ist dann weg.

Kaum vorstellbar für viele Rotenburger. Schon werden Unterschriften gesammelt für den Erhalt des Hauses. Nur etwas zu spät. Die Stadt hat sich mit dem Besitzer des Grundstücks bereits geeinigt.

Das Einzugsgebiet des Kinos ist groß. „Manche Leute kommen aus Schneverdingen hierher. Wir haben ein Einzugsgebiet von mindestens 30 Kilometern“, sagt Balcke. Die nächsten Kinos gibt es in Verden, Bremen oder Zeven.

Ganze Generationen sind mit dem Kino groß geworden. „Das fängt so mit etwa fünf Jahren an. Da kommen dann die Eltern mit ihren Kindern. Wenn die Kinder sieben oder acht Jahre alt sind, kommen sie dann auch schon mal alleine. In der Pubertät besuchen sie dann oft Das Kino. Wenn sie heiraten, werden sie fauler und wollen lieber zu Hause hocken. Wenn ihre Kinder dann soweit sind, sind sie mit ihnen zusammen wieder da. So schließt sich der Kreis“, erklärt Balcke.

Eine dieser Geschichten fängt Mitte der 70er Jahre mit einem Asterix-Streifen an. Den wollte der Vater damals gerne sehen und schleppte seine Tochter mit. Das Boot. Wieder so ein Film, in den der Vater seine Tochter mitnahm. Wochenlang war Das Kino ausverkauft. Auf dem Boden drängelten sich die Leute, die keinen Sitzplatz mehr abbekommen hatten.

Später traf sich dann die Tochter mit einer Freundin, um La Boum – Die Fete zu sehen. Dann: die Zeit auf dem Ratsgymnasium gleich nebenan. Traditionell wird Das Kino noch heute nach der Zeugnisausgabe mittags von Gymnasiasten zum Filmegucken belagert. Nur The Rocky Horror Picture Show wird heute nicht mehr gezeigt. Das gab es nur 1986. Ein Ereignis, das dem früheren Kinopächter in unguter Erinnerung geblieben sein dürfte. Trotz Verbots flog der Reis durch den Saal, wurde mit Wasserpistolen gespritzt, mit Klopapier geworfen und der Time Warp getanzt. Balcke hat diesen Film später nie mehr gezeigt. „Ich wollte mir doch nicht das ganze Haus versauen lassen.“

In den 90er Jahren, Sendepause. Wegzug aus Rotenburg. Andere Städte und andere Kinos folgen. 2001 – die Rückkehr. Die Tochter wohnt mit Mann und Kind wieder in Rotenburg. Der Babysitter hütet zu Hause, sie sieht mit ihrem Mann Ocean‘s Eleven im Kino II. Und kommt verqualmt und mit tränenden Augen zurück. Aber schön war‘s gewesen, nach Jahren wieder im alten Kino. Dann 2004, das Kind ist fünf Jahre alt und will Findet Nemo sehen. Es sieht den Film mit seinem Papa bis fünf Minuten vor Schluss an. Es gruselt sich und heult. Der Papa ist genervt, weil er gern gewusst hätte, wie der Streifen endet. Lauras Stern besucht das Kind dann mit der Mama. Den Film sehen sie bis zum Schluss – und heulen beide herzzerreißend. Am Tag als Bobby Ewing starb, da geht dann die Tochter wieder mit ihrem Mann und ohne Kind hin. Und trifft jede Menge alte Bekannte und Altfreaks aus dem Umland.

Auch für Balcke war das ein besonderes Ereignis. „Ich glaube da war ganz Horstedt hier. Der Streifen wurde ja zum Teil da gedreht. Einer aus dem Publikum hat im Film sogar seine Kuh wiedererkannt.“ Verrückt nach Paris, wieder so ein Film, mit dem sich viele Rotenburger ganz besonders identifizieren konnten. „Bewohner der Rotenburger Werke haben mitgespielt. Da war hier natürlich ordentlich was los.“ Rund 2.000 Menschen mit Behinderung leben in den Rotenburger Werken. Betreut werden sie von 1.400 Mitarbeitern. Für Balcke gehören sie zum potentiellen Publikum.

Filme wie Verrückt nach Paris oder Am Tag als Bobby Ewing starb nennt Balcke Kunstfilme. Und weil er auch diese Kunstfilme zeigt und nicht nur Blockbuster, die die Massen anziehen, hat er 1998 den niedersächsischen Filmpreis bekommen, wie er stolz erzählt. „Ich muss doch versuchen, den unterschiedlichsten Menschen etwas zu bieten. Ich will möglichst alle Generationen und Bevölkerungsschichten erreichen.“

Sein erfolgreichster Streifen war dann aber doch kein Kunstfilm, sondern die Hollywood-Schmonzette Titanic. „Sechs Wochen am Stück habe ich den gespielt. Und der war immer ausverkauft.“

200 Filme hat er im letzten Jahr in den beiden Sälen gezeigt. Harry Potter und der Feuerkelch, der Film, der auch bundesweit die meisten Zuschauer hatte, lief auch bei ihm am besten. Aber die Kinokrise 2005 bekam auch das Rotenburger Kino zu spüren. Besucherzahlen mag Balcke nicht nennen, nur soviel: „20 bis 30 Prozent weniger als 2004 waren es schon.“

Trotzdem rentiert sich das Geschäft, sagt Balcke. Irgendwie will er weitermachen. Sein Sohn und seine Tochter liebäugeln damit, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Nur wo? „Im Moment sondiere ich verschiedene Angebote“, gibt sich der Kinomann verschwiegen. Diverse Objekte in Rotenburg hat er sich angesehen. Aber irgendetwas stimmte immer nicht. Entweder war die Decke zu niedrig oder Säulen und Stützpfeiler standen im Weg und behinderten die Sicht auf die 48 Quadratmeter große Leinwand. Der Besitzer des Kinogrundstücks bot Balcke an, über dem neuen Supermarkt einzuziehen. „Aber wie soll das gehen? Bei so vielen behinderten Menschen wie in Rotenburg. Ich brauche ein ebenerdiges Haus.“ Dann auch wieder mit zwei Kinosälen. Aber rauchfrei. „Heutzutage können sie das gar nicht mehr bezahlen. Da gibt‘s doch so viele Auflagen. Die Zigaretten müssen dann draußen bleiben.“

Das Inventar gehört Balcke. Der feuerfeste braunschwarze Teppich mit Zebramuster, die Projektoren, die auf dem neuesten Stand der Technik sind. Die braunen Sessel, die schwarzen Sessel aus Kino II, das alles will er mitnehmen. Vielleicht auch, weil sie aus so besonders gutem Material sind. „Beim Hochwasser 2002 stand hier alles 80 Zentimeter hoch unter Wasser. Wir mussten alles nur reinigen und trocknen. Dann war es wieder wie neu.“ Ein anderes Kino wird es wahrscheinlich geben. In einer alten Lagerhalle vielleicht oder übergangsweise in einem Kinobus, wie die Rotenburger CDU vorgeschlagen hat.

Nur Das Kino ist dann im nächsten Jahr weg. Dann kommen die Bagger und reißen es ab. Schade.