: „Merkel regiert wie Kohl“„Dahinter steckt Substanz“
100 Tage Schwarz-Rot: Friedrich Küppersbusch und Christoph Keese im Streitgespräch
MODERATION BASCHA MIKAUND STEFAN REINECKE
taz: Herr Keese, vor der Wahl waren Sie, ein erklärter Neoliberaler, ganz begeistert von Angela Merkel. Sind Sie immer noch so euphorisch?
Christoph Keese: Begeistert war ich nicht, deswegen bin ich jetzt auch nicht euphorisch. Vor der Wahl hat niemand mit einer Großen Koalition gerechnet – Merkel am allerwenigsten. Sie hat alles unternommen, um die große Koalition zu verhindern, und auch nach der Wahl nicht daran geglaubt. Dann folgte ein fast rauschhaftes Feststellen von Gemeinsamkeiten mit der SPD. Jetzt aber enden die Flitterwochen.
Sind Sie enttäuscht von Merkel – oder nicht?
Keese: Nicht so schnell. Frau Merkel wird immer zu schnell beurteilt. Man unterschätzt sie deswegen leicht. Ihre Stärke liegt im Moderieren von Prozessen.
Herr Küppersbusch, warum ist Merkel im Moment so populär?
Friedrich Küppersbusch: Merkel passt politästhetisch in die Zeit. Sie führt mit einer Aura beherzter Freudlosigkeit die Agenda 2010 fort. Schröder hat diese Politik, die für viele Regierte freudlos ist, mit der Ansage gemacht: Schnall dir mal den Gürtel enger, während du mir die Cohiba holst. Das ging nicht mehr. Merkel ist politästhetisch ein geschlossenes Bild. Sie ist die Trümmerfrau. Das war ihre Rolle in der Union. Und die Schäubles, Rühes, Kochs und Wulfs haben sich immer geirrt und gedacht: Jetzt kann sie wieder gehen, jetzt macht es wieder Spaß. Und haben unterschätzt, wie stark sie war.
Wird Merkel noch immer unterschätzt?
Küppersbusch: Ja, das scheint sich jetzt zu wiederholen. Meinetwegen, soll sie regieren. Meinetwegen auch zwei Legislaturen mit den Sozis rocken. Die Grünen sind in einer historisch katastrophalen Situation, von denen ist im Moment nichts zu erwarten. Ich bin froh über jeden Freidemokraten, der so munter an der Realität vorbeiphilosophiert, dass er beim Bilden seiner Theorien auf keinen Fall mit konkretem Regierungshandeln belästigt werden sollte. Alles prima, wenn man nur wüsste: Wohin will Merkel?
Keese: Ich glaube, Merkel ist populär, weil sie ihre Arbeit ordentlich macht. Schröder hat ständig dieses Ich-setze-alles-auf-eine-Karte-Spiel inszeniert. Erst stieß er fünf Jahre lang fast gar keine Reformen an, dann verkündete er die Agenda 2010, die alle überraschte. Dann gab er die Hälfte seiner Macht ab, und Müntefering wurde Parteivorsitzender. Dann Neuwahlen. Immer dieses Schicksalhafte. Das ist bei Merkel anders. Bei ihr hat man das Gefühl, dass sie sachlich, ruhig und in kleinen Schritten Detailarbeit verrichtet. Das ist populär, weil jeder aus eigener Anschauung weiß, dass nur Beharrlichkeit nach vorne führt. Man muss die Komplexität des Lebens ernst nehmen und versuchen schwierige Probleme pragmatisch zu lösen. Merkels Popularität wird im Laufe der Zeit vielleicht sinken, aber nicht verschwinden. Denn dahinter steckt Substanz.
Was hat Merkel denn bisher außer einem guten Eindruck hinterlassen?
Keese: Zum Beispiel die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 bis 2029. Experten sagen schon seit Jahrzehnten, dass dieser Schritt nötig ist. Offen gestanden hatte ich nicht erwartet, dass eine große Koalition die Kraft aufbringt, diese Reform zu verwirklichen. Vielleicht eine sanfte Anhebung auf 65,5 oder den Versuch, das reale Renteneintrittalter zu heben – das schien erwartbar. Aber alles auf einen Schlag zu erledigen und den Eintrittstermin der 67er-Rente jetzt sogar noch vorzuziehen war überraschend.
Küppersbusch: Erstaunlich, dass ein erklärter Neoliberaler Müntefering applaudiert.
Keese: Müntefering ist ein guter Politiker …
Küppersbusch: … in der falschen Partei.
Herr Keese, zwei Drittel der 60-Jährigen arbeiten gar nicht, weil es keine Jobs für Ältere gibt. Und auch Müntefering hat keine Idee, wie man das ändern kann. Faktisch heißt Rente mit 67: Rentenkürzung. Und das verkündet der sozialdemokratische Vizekanzler der großen Koalition. Ist das nicht Selbstmord auf offener Bühne?
Keese: Nein, das ist gelebtes Verantwortungsbewusstsein. Schon jetzt fließen 80 Milliarden Euro, ein Viertel des Bundeshaushalts, als Zuschuss in die Rentenkasse. Diesen Anteil kann man nicht steigern, ohne die Steuern zu erhöhen oder den Staatshaushalt komplett zu ruinieren. Rente mit 67 ist pures Verantwortungsbewusstsein.
Herr Küppersbusch, Sie waren vor der Wahl nicht so begeistert von Merkel, weil Sie den rheinischen Kapitalismus bedroht sahen. Und heute?
Küppersbusch: Wir waren uns bei unserem letzten Gespräch einig, dass Merkel keine Neoliberale ist. Das Image hat sie nach dem 18. September ganz schnell entsorgt. Aber ich bin ernüchtert, weil sie regiert wie Kohl. Nach dem Motto: „Ich lass mich bei gar keiner Meinung erwischen, bevor ich absehen kann, was ist mehrheitsfähig ist.“ Ich hatte die Hoffnung, dass die große Koalition ein Projekt hat. Irrtum.
Und was machen die Sozialdemokraten?
Küppersbusch: Das, was sie seit Noske immer machen: beweisen, dass sie keine vaterlandslose Gesellen sind. Das Programm der Müntefering-SPD lautet: Wir melden uns bei jeder Arschkarte, die auf dem Tisch liegt. Das ist die Arbeitsteilung, die Merkel klug delegiert hat. Wenn es Arbeitslosenzahlen zu verkünden gibt, muss Münte es machen, wenn es Staatsschulden zu verkünden gibt, muss es Steinbrück machen.
Keese: Der Vergleich Müntefering–Noske ist historisch ziemlich gewagt. Das hat Müntefering nicht verdient.
Küppersbusch: Kann sein. Aber Sie wissen, was ich damit meine. Den Vorwurf, man sei nicht staatstragend, haben Sozialdemokraten immer damit überkompensiert, dass sie die Drecksarbeit machen. Jetzt fällt ihnen nach hundert Tagen ein, dass sie auch gerne aufs Sonnendeck würden. Zu spät, finde ich.
Keese: Sie haben sich die Ressorts selber ausgesucht.
Küppersbusch: Ja, und das zeigt die Schläue von Merkel. Im ersten Moment dachten alle: Oh, da hat sie sich ja aber über die Erbse ziehen lassen, alle wichtigen Ressorts haben die Sozis. Und im zweiten Moment sieht man: Das ist klassisch Merkel.
Keese: Es gibt aber ein gemeinsames Projekt, auch wenn Sie es der Koalition absprechen: kleine Trippelschritte in die richtige Richtung. Zugegeben, ein Projekt wider Willen, weil die Konstellation Merkel/Westerwelle eigentlich radikale Schnitte und Durchregieren wollte. Aber dennoch ist ein den Umständen entsprungenes Projekt jetzt sichtbar.
Küppersbusch: Wobei wir fasziniert vor dem Wunder stehen, dass nun nicht Westerwelle harte Einschnitte fordert und Merkel sich dagegen als Vorsitzende einer christlichen, sozialen Partei profiliert. Sondern dass Müntefering die Rentner schockt und Merkel sagt: Na ja gut, wenn es unbedingt sein muss.
Merkel ist so stark, weil ihr die SPD die Arbeit abnimmt?
Küppersbusch: Sie wartet einfach ab, bis bei der SPD einer nervös wird und losläuft. Das ist eigentlich die Aufgabe, die Westerwelle zugekommen wäre. Also meine These zu Merkel nach hundert Tagen ist: Machttechnisch à la bonne heure, Eins plus mit Mappe. Merkel ist im Ausland bei den Verbündeten aufgetreten und hat gesagt: „Kinder, es waren sieben schlimme Jahre, aber jetzt ist wieder alles wie früher. Nach Brüssel bringen wir Geld mit, in Amerika sind wir Freunde, und bei Putin reden wir mit der Opposition.“ Sie hat die Machttechnik drauf. Nur: Where’s the beef?
Herr Keese, hat Merkel wegen der Außenpolitik so gute Umfragewerte?
Keese: Dass diese Regierung in Europa alle Konflikte mit Geld lösen will, kann man nun wirklich nicht sagen. Eher das Gegenteil trifft zu. Die guten Umfragewerte entspringen dem Effekt „Unsere Kanzlerin kann sich in der Welt sehen lassen“.
Küppersbusch: Genau, bis zu dem Moment, in dem Frau Merkel auf den Bildern neben den großen Persönlichkeiten der Welt erschien, dachte man ja: Ok, das ist die Siegerin unserer Bundesausscheidung. Aber was, wenn die beim Grand Prix de la Christdemokratie den letzten Platz macht? War aber nicht so. Jetzt sind alle stolz auf sie. Das ist so eine Underdog-Identifikation.
Keese: Aber es steckt noch mehr dahinter. Merkels Außenpolitik findet 80 Prozent Zustimmung, weil die Deutschen die Sehnsucht verspüren, in den Vereinigten Staaten anerkannt statt verachtet zu werden.
Och, Sehnsucht?
Keese: Allerdings, das wollt ihr bei der taz bloß nicht wahrhaben. Die Mehrheit der Deutschen empfand eine Sehnsucht, das Verhältnis zu den Amerikanern zu sanieren.
Küppersbusch: Die Zustimmung zur Außenpolitik der Regierung Fischer/Schröder war genauso hoch.
Herr Keese, ist die Bruchlinie in der Großen Koalition in der Außenpolitik?
Keese: Ja, sie verläuft beim Irankonflikt. Merkel wird die USA in jeder Phase des Konflikts so stark wie möglich unterstützen, wobei jeder weiß, dass keine Soldaten geschickt werden. Das kann Deutschland schon logistisch nicht leisten. Aber alles jenseits davon.
Mit BND-Unterstützung in schöner rot-grüner Tradition?
Keese: Ja, aber noch mehr: Frau Merkel steht für volle politische Unterstützung eines vielleicht notwendigen Militärschlags gegen den Iran. Das ist Bruchlinie mit der SPD. Merkel wird die pro-amerikanische Kontinuität der deutschen Außenpolitik wiederherstellen, die Schröder gebrochen hat.
Wirklich? Obwohl mehr als 80 Prozent der Wähler gegen eine Militäraktion gegen Iran sind?
Keese: Ja. Hier liegt die Kunst der Diplomatie. Wenn die Briten gegen einen Krieg der USA waren, haben sie öffentlich gesagt: „Wir können aus technischen Gründen leider keine Soldaten schicken, wünschen euch aber alles Gute.“ Als Verbündeter an einem Krieg nicht mitwirken zu wollen ist das gute Recht jeder Regierung. Aber sie sollte den Partner nicht öffentlich brüskieren und als unmoralisch verteufeln. So kann man dem Krieg fernbleiben, ohne seine Freundschaft zu ruinieren. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Merkel und Schröder.
Darf man einen falschen Krieg nicht so nennen?
Keese: Sie dürfen alles sagen, müssen ihre Worte und Ihr Forum aber mit Bedacht wählen. Weltpolitik ist kein Jahrmarkt, sondern ein Ort der Diplomatie. Wer das nicht akzeptiert, erreicht gar nichts. So wie Schröder. Der Krieg fand trotzdem statt, und am Ende hat Schröder via BND trotzdem mitgemacht.
Küppersbusch: Wenn ein Krieg völkerrechtswidrig ist, dann sollte man das sagen und keine technischen Gründe vorschieben.
In der Koalition herrscht bislang kein Krieg, sondern Friede, Freude, Eierkuchen. Wie lange noch? Bis zum Krach um die Gesundheitsreform?
Keese: Muss es nicht. Zwischen den Modellen Bürgerversicherung und Kopfpauschale gibt es nur minimale unüberbrückbare Unterschiede. Die Mischlösung könnte ungefähr so aussehen: Erweiterung der Bemessungsgrundlage, Freiberufler und andere aufnehmen und gleichzeitig keine Einheitskrankenkasse schaffen, sondern ein Wettbewerbssystem beibehalten. Der Kompromiss ist möglich, sogar wahrscheinlich.
Küppersbusch: Ich glaube, SPD und Union wollen beide nichts dran ändern, dass sich eine Tablette Aspirin beim Verlassen des Werktors von Bayer auf dem Weg zur Apotheke im Preis verdoppelt. Und an die tollen Jobs in 360 Krankenversicherungen mit 360 Verwaltungen, wo abwechselnd Christdemokraten und Sozialdemokraten aus den Kreisverbänden sitzen, wollen sie auch nicht ran. Das sind schon verdammt viele Gemeinsamkeiten. Das deutsche Gesundheitswesen ist teurer als jedes andere in Europa, und wir haben die stärkste pharmazeutische Industrie in Europa. Es gibt eine staatliche Subventionen für die Pharmaindustrie über den Umweg einer öffentlichen Sozialkasse. Meine These ist: Das wird auch nach der Gesundheitsreform so bleiben. Vielleicht wird Merkel es, weil die Umfragen so geil sind, auch bei der Gesundheitsreform krachen lassen. Das wird sowieso als Menetekel über dieser Regierung schweben. Dass es immer welche gibt die sagen, wir sind bei 60 Prozent, jetzt brauchen wir Neuwahlen.