: Das große Täuschungsmanöver
In Arbeit (4): Die Hartz-Reformen haben weder Jobs geschaffen noch Arbeitslose besser vermittelt. Stattdessen fördern sie einen Billiglohnsektor, in dem Jobs verloren gehen
Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!Faust/Goethe
Wenn einem Freunde einen Bären aufbinden und dies nie aufklären, wird man misstrauisch. Wenn dies häufiger geschieht, sollte man besser getrennter Wege gehen. Nicht so in der Politik. Hier scheint die Regel zu gelten: Je dreister die Lüge, desto erfolgsträchtiger die Karriere des Schwindlers. So war es auch bei Peter Hartz. Er war ein sozialdemokratischer Topmanager bei VW, dem stets eine große Nähe zu den Belangen der Arbeitnehmer nachgesagt wurde – eine Einschätzung, die wir heute anders einzuordnen wissen.
Er war Intimus des ehemaligen Bundeskanzlers, der wiederum seine letzten Schlagzeilen unter dem Stichwort „Gazprom“ verbuchte. Dieses Männerduo trat Mitte 2002 an, die Republik vor der Massenarbeitslosigkeit zu retten und damit auch die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Die Kernaussage der Hartz-Reformen I–IV lautete: Wir haben heute eigentlich nur knapp zwei Millionen Erwerbslose und keineswegs fünf.
Obwohl dieses politisch motivierte Pamphlet fachlich zutiefst unseriös war, stürzte sich alle Welt auf das vermeintliche Konzept zum Abbau der Arbeitslosigkeit wie die Fliegen auf den berühmten Haufen. Doch selbst die Kritik an der mangelnden Wirksamkeit der eingeleiteten Reformen verschweigt bis heute den Kern des Problems: Die Reform zielte niemals auf den Abbau der Massenarbeitslosigkeit.
Die Gesetze „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ verfolgten zwei Ziele: die Kosten der Arbeitslosigkeit reduzieren, weil man wusste, dass die Arbeitslosigkeit eher steigen als sinken werde. Und zweitens die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit nutzen, um den Preis der Ware Arbeitskraft zu senken. Die Hartz-Reformen sind eine klassische Deregulierungspolitik – sowohl gegenüber den Beschäftigten als auch gegenüber den Erwerbslosen.
Was sich Helmut Kohl seinerzeit nicht getraut hatte oder nicht durchsetzen konnte, hat Rot-Grün gemacht: in Zeiten schwindender Arbeitsplätze den Druck auf die Arbeitslosen erhöht und damit auch auf die Erwerbstätigen. Man hat den Erwerbslosen zunächst den Berufs- und Qualifikationsschutz genommen und sie dann abgedrängt in unterqualifizierte, schlecht bezahlte Bereiche. Und in diesem Segment des Arbeitsmarktes konkurrieren sie mit den noch Beschäftigten, die ihre Stellung nur erhalten können über Lohnverzicht.
Das Ziel ist zunächst der Ausbau eines Niedriglohnsektors, der aber ökonomisch gesehen keine Berufsperspektive bietet, da dort der Schwund an Arbeitsplätzen am größten ist. Die Verdrängung im unteren Segment zieht Folgen in anderen Bereichen nach sich. Arbeitskraft wird generell billiger, und das ist das Ziel der neuen Reformpolitik. Je stärker der Druck auf die Erwerbslosen über die „Vermittlungsoffensive“ ist, desto schneller der Prozess des Downgrading.
Die Hartz-Reform bedient sich dabei unlauterer Mittel. Sie enteignet erworbene Versicherungsleistungen, weil sie die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere auf ein Jahr bis eineinhalb Jahre verkürzt. Sie droht damit, Transferleistungen zu entziehen, wenn sich Betroffene der systematischen Entwertungspolitik verweigern, die die Bundesagentur für Arbeit im Auftrag der Regierung betreibt. Statt die Konkurrenzfähigkeit des Einzelnen am Markt zu stärken, wird diese systematisch geschwächt und als „Mitnahmeeffekt“ auch die Konkurrenzfähigkeit des Erwerbstätigen.
Der bewusst initiierte flächendeckende Abbau der Weiterbildung für Erwerbslose ist nur ein Ausdruck dieser Strategie. Und damit es jeder begreift, wurde das Damoklesschwert Hartz IV entwickelt. Auch hier tickt bereits die Uhr. Die Pläne zur Einführung eines Kombilohns haben als ein wesentliches Ziel die Absenkung der so genannten – nicht auskömmlichen – Grundsicherung im Visier.
Wem dies zu allgemein ist, der kann noch mal die einzelnen Instrumentarien der Hartz-Vorschläge Revue passieren lassen und sie daraufhin untersuchen, welche zu mehr Beschäftigung geführt haben. Er wird nichts finden außer Leistungsbeschneidungen, Verdrängungseffekte, Repression. Und alle Fördermechanismen, etwa für Ältere, blieben wirkungslos, wie jüngst das Institut für Arbeit und Technik belegte. Diesen Umstand jedoch nimmt der Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) schlicht nicht zur Kenntnis. Selbst die viel gerühmten Ich-AGs sind nur Resultat der sinkenden Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und in vielen Fällen zeitlich begrenzte Scheinselbstständigkeiten vor erneuter offizieller Erwerbslosigkeit.
Das Filetstück der Hartz-Reform war die Vermittlung von 750.000 Erwerbslosen – meist mit geringer Qualifikation – in Arbeit über Personalservice-Agenturen (PSA). Man ahnte es damals schon, dass es sich um Scharlatanerie handelte, aber man musste es ja versuchen. Ergebnis: null. Seriöse Fachleute warnten vor Illusionen. Was der Markt nicht mehr braucht, nimmt er auch nicht, auch nicht über staatlich geförderte Strukturen und offizielle Ansage. Auch nicht verbilligt und mit angebotenen Mitnahmeeffekten – finanziert über heutige Erwerbslose, die dafür lange eingezahlt haben und denen man die erworbene Versicherungsleistung klaut.
Warum Vertreter von Unternehmensverbänden und Marktradikale aller politischen Couleur eine staatlich subventionierte Strategie predigen, die der Markt längst abgelehnt hat, sollte einem zum Nachdenken bringen. Hartz selbst hat nur eine Idee verlängert, die ihm als Coup in Wolfsburg geglückt war. Dort hatte man eine PSA mit staatlicher Unterstützung gegründet, um real nachgefragte Arbeitskräfte für VW billiger besorgen zu können. Und das hat geklappt, weil es eine reale Nachfrage gab, was gesamtgesellschaftlich bekanntermaßen nicht der Fall war und ist.
War Hartz ein Spinner oder ein genauso provinzieller Voluntarist wie Schröder? Wohl kaum. Es ging darum, die Kosten der Arbeit zu senken, indem man Arbeitslose wie Beschäftigte unter Druck setzt. Das ist gelungen – so viel muss man konstatieren. Wer diese Strategie vor den Wahlen im Herbst 2002 noch nicht begriffen hatte, der musste spätestens mit der Ankündigung der Agenda 2010 doch erkennen, dass die Hartz-Reformen nur der Anfang vom Abbau der sozialen Sicherungssysteme waren und strukturell eine arbeitnehmerfeindliche Politik. Rollt der Ball einmal, läuft er immer weiter.
Als arbeitsmarktpolitische Strategie im herkömmlichen Sinne waren die Hartz-Reformen ein gigantisches Täuschungsmanöver. Und wer sich richtig verblöden lassen möchte, der diskutiert jetzt noch mal ernsthaft, warum die Hartz-Reformen leider nicht die erhoffte Wirkung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gebracht haben.
GABY GOTTWALD