: Die Gleichgültigkeit der Welt
Nichts ausschließen, alles wahrnehmen: Erstmals sind zwei Bände des französischen Literaturwissenschaftlers Roland Barthes auf Deutsch erschienen, in denen er seine Philosophie des „Neutrums“ formuliert. Den Kulturkampf um Integrationsdebatten sah er dagegen schon 1971 als Krieg der Sprachen
VON CORD RIECHELMANN
„Beauty is difficult in the days of the Berlin to Bagdad project“ (Ezra Pound, Canto LXXIV)
Es geschah vor ein paar Jahren in einem Seminar zum „Sozialverhalten von Primaten“ an der FU Berlin. Eine völlig in falschen Dichotomien verhakte Diskussion wurde von einer Spanierin durch einen in gebrochenem Deutsch vorgebrachten Gedanken aufgebrochen. Doch bevor der die Verkettung lösende Gedanke wirken konnte, hatte sich ein selbstbewusster Student im Stuhl aufgerichtet und den grammatikalisch unvollständigen Satz der Vorrednerin laut noch einmal in den Raum gesprochen. Mit der Folge, dass der Gedanke zerstört war; die Arroganz der Kenntnis des richtigen Deutsch hatte gesiegt.
„Im makroideologischen Maßstab betrachtet, ist das Abendland auf Arroganz geradezu spezialisiert“, meint der Literaturwissenschaftler und Semiologe Roland Barthes in einer kürzlich auf Deutsch erschienenen, 1978 am Collège de France gehaltenen Vorlesung über „Das Neutrum“. „Ich weiß nicht, warum (bloßer ‚Eindruck‘), mir scheint, dass die ‚gegenwärtige‘ Welt (eine andere Formulierung für ‚jedermann‘) in einer Nebenform der Arroganz versinkt, nämlich in verbaler Selbstsicherheit: Fehlen von Schüchternheit: Mir scheint, dass die Schüchternheit allmählich verschwindet: Radio, Spontandiskussionen, Unterhaltungen: Man könnte sagen, die Leute hätten immer weniger Lampenfieber“, führt Barthes den Gedanken zur Medienwirklichkeit aus, in einer Zeit, als es das Privatfernsehen in seiner heutigen Gestalt noch nicht gab.
Es geht Barthes in seiner Vorlesung um das Verhalten von Subjekten im Sprechen und zur Sprache von Anderen. Sein Neutrum ist nicht eintönig oder ununterscheidbar und es hat auch nichts mit Neutralität zu tun. Es ist weder maskulin noch feminin, zoologisch verweist es auf Arbeiterbienen, die sich nicht mehr fortpflanzen, und chemisch auf Salze, die weder sauer noch basisch sind.
Das allgemeine Feld seiner Überlegungen ist „die Ethik als Diskurs der ‚guten Wahl‘ (keine politische Anspielung!) oder der ‚Nicht-Wahl‘ oder der ’achtlosen Wahl‘: der Nichtbeachtung der Wahl, Nichtbeachtung des Konflikts des Paradigmas“ (Barthes). Wobei Ethik für Barthes eine Ethologie, eine Verhaltenslehre im Sinne von Gilles Deleuze ist, auf den er in der Vorlesung immer wieder zurückkommt. Ethik, meint er, gibt es immer, überall, nur werde sie unterschiedlich begründet, anerkannt oder verdrängt, Ethik durchziehe jeden Diskurs. Das kann man im Kontext der marxistischen und psychoanalytischen Diskussionen der Siebzigerjahre auch als Rückzug Barthes’ aus der damals aktuellen Diskussion werten. Bei Freud und Marx gibt es keinen Diskurs über Ethik. In der Praxis des Subjekts Roland Barthes aber andauernd.
Die Vorlesung über das Neutrum ist Barthes’ zweite nach seiner Wahl zum Professor am College 1976 und sie folgt auf die Vorlesungsreihe mit dem Titel „Wie zusammen leben“. Kurz vor den Ausführungen zum Neutrum ist seine Mutter gestorben. Dadurch ist Barthes in einen Zustand trauernder Erschöpfung verfallen. Er sitzt im von seiner Mutter geerbten Ferienhaus in Urt, im Südwesten Frankreichs, blickt auf die Bibliothek und nimmt mal da, mal hier ganz unsystematisch ein Buch heraus und liest. Aus dem Bestand der Bibliothek und den Lektüren im Urlaubshaus stellt er weder logisch noch vollständig eine zumal unorganisierte Folge von Figuren zusammen, die er durch den strukturierten Raum der Vorlesung führt. In der Erschöpfung der Trauer ist er produktiv geworden: „Das Neutrum – mein Neutrum – kann intensive, starke, unerhörte Zustände aufweisen“, warnt er seine Zuhörerinnen. Das Begehren des Neutrums lebt in einem fortwährenden Paradox: „Als Objekt ist das Neutrum die Enthaltung von Gewalt; als Begehren ist es Gewalt.“
Das Neutrum bleibt libidinös, sein Subjekt sucht bestimmte Berührungsflächen zu meiden, nicht aber generell die Welt, den Affekt oder die Liebe. Und dieses Spannungsverhältnis zeichnet Barthes allen von ihm vorgeführten Figuren ein. Wenn er etwa vom Prinzip des Zartgefühls handelt, beginnt er mit einem Zitat des Marquis de Sade. Zartgefühl kann auch eine Perversion sein, die mit überflüssigen, funktionslosen Details spielt. Mit Barthes’ Worten: Zartgefühl ist eine Analyse, die zu nichts führt. Aber kaum hat man’s ausgesprochen, folgt eine Wirkung.
Das gilt auch für die Praxis von Barthes’ Vorlesungen selbst. Nach der Sitzung bekommt er einen Brief eines Hörers – seine Vorlesungen am Collège waren so überfüllt, dass viele die Vorträge nur über Lautsprecher in anderen Räumen verfolgen konnten, ohne den Professor zu sehen. Auch deshalb ließ er sich, während er redete, nicht auf Fragen ein oder trat in einen mündlichen Dialog mit den Hörern. Wenn ihn die Hörerpost affiziert, fasst er den Inhalt kurz zusammen, präzisiert seine Äußerungen oder geht den Vorschlägen, abweichend von seiner Redetopologie, nach. Das Ganze bleibt dabei ebenso unsystematisch wie die Auswahl der Lektüren.
Auf diese Weise wird in der Schriftform der Vorlesung deutlich, dass das gesprochene Wort im Unterschied zum geschriebenen nicht korrigiert, zurückgenommen werden kann. Einmal ausgesprochen, ist es da, man kann es nur durch den Satz „ich nehme es zurück“ korrigieren oder aber präzisieren. Die Auseinandersetzungen mit der Hörerpost machen das Neutrum lebendig und lassen Barthes methodologische Voraussetzungen nachliefern. Er legt dar, dass die scheinbare Unbekümmertheit seinerseits gegenüber dem nur bruchstückhaften Wissen, das er ausbreitet, seiner Überzeugung entspringt, dass Wissen nie kohärent sei. „Ich beherrsche diese Gegenstände nicht, ich bin darin nicht Meister, und um es ganz deutlich zu machen: ich muss ‚den Respekt vor dem All verlernen‘ (Nietzsche): denn der Meister ist derjenige, der das All, das Ganze (sein Ganzes) lehrt: und ich lehre nicht das Ganze (des Buddhismus, des Skeptizismus). Mein Ziel: weder Meister noch Schüler zu sein, sondern im Nietzsche’schen Sinne (also ohne irgendein satisfecit) ‚Künstler‘“, antwortet Barthes einem Hörer.
Doppelpunkt, Klammer, Zitat sind die Mittel, durch die Barthes das prinzipiell Unabschließbare und Widersprüchliche seiner Rede ausbalanciert. Wiegt ein Name, ein Argument, ein Begriff zu schwer, weist er auf einen anderen hin, öffnet ein Fenster oder – auch das kommt vor – wirft eine Tür zu. Seine Aufmerksamkeit bleibt immer wieder unkontrolliert an Gegenständen hängen und motiviert gleichzeitig die Angst, einem gerade nicht im Blick erscheinenden anderen Unrecht anzutun. Dann folgen der Doppelpunkt und der Hinweis: Das gibt es auch noch.
Das heißt aber nicht, dass Barthes sich mit dem Verzicht auf die Hierarchien der Akademie gleichfalls aus den philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Kämpfen der Zeit herausdenken würde. Worin er die sieht, kann man in seiner gerade erschienenen Essaysammlung „Das Rauschen der Sprache“ nachlesen. Der Band versammelt 46 Aufsätze Barthes’ aus den Jahren 1967 bis 1980. Er enthält so berühmte Texte wie den vom „Tod des Autors“, und er drängt sich als Co-Lektüre zur Vorlesung geradezu auf. „Das Rauschen der Sprache“ enthält zudem drei Aufsätze, die die Herausgeber hintereinander abgedruckt haben, die die derzeitigen Kulturkämpfe um die Sprache auf Schulhöfen, Einwanderungsfragebögen und die „richtige“ Interpretation von Migrationsphänomen nicht nur zu kommentieren scheinen. Sie stellen, im Unterschied zu den meisten aktuellen Bemerkungen, den derzeitigen Kulturkampf auf eine sprachmaterialistische Basis. Die Texte – und Text, das ist wichtig, ist für Barthes zunächst einmal Theorie – heißen „Der Kulturfrieden“, „Die Spaltung der Sprachen“ und „Der Krieg der Sprachen“. Sie stammen aus den frühen Siebzigerjahren, und wenn man sie liest, weiß man einiges über die Debatten von heute.
Natürlich hält Barthes den „Krieg der Sprachen“ nicht für synthetisch lösbar. Schon gar nicht durch Verordnungen oder Fragebögen. Denn das Leben selbst ist nach Barthes wie eine Sprache konstruiert. In unserer Kultur gibt es unterhalb des Kulturfriedens einen unversöhnlichen Krieg der Sprachen. „Unsere Sprachen schließen einander aus; in einer (durch die soziale Klasse, das Geld, die schulische Herkunft) unterteilten Gesellschaft wirkt auch die Sprache als solche trennend“, schreibt Barthes. Von einer Sprache zur anderen gebe es keine Neugier, es genüge uns die Sprache unseresgleichen. Wir sind nicht auf die Sprache des Anderen angewiesen, um zu leben. Das Festhalten an den Sprachen unserer sozialen und beruflichen Bezirke hat neurotischen Wert: „Es erlaubt uns, uns recht und schlecht an die Zersplitterung unserer Gesellschaft anzupassen.“ Barthes’ Diagnose ist wenig hinzuzufügen, außer der Tatsache, dass die Segregation der Gesellschaft Anfang der Siebzigerjahre nicht annähernd den Atomisierungsgrad erreicht hatte, der heute als normal gilt.
In der eingangs erwähnten Stelle zur abendländischen Arroganz wiederum sagt Barthes in seiner Vorlesung, dass die Reinform der Arroganz die Ausbeutung der Evidenzen sei, die für selbstverständlich erklärt, was sie triumphieren lassen möchte. Dafür zitiert er den Praktiker und Theoretiker der Gegenrevolution Joseph de Maistre. „Um zu wissen, dass die anglikanische Religion falsch ist, bedarf es keiner Untersuchungen und keiner Argumentation. Es genügt sie nach dem Augenschein zu beurteilen: sie ist so falsch, wie die Sonne hell ist“, meint de Maistre. Barthes’ Urteil dazu lautet: Das sei „gut gesagt und schlecht gedacht“, weil es das Verfahren des vom wissenschaftlichen Geist entwickelten kritischen Denkens verletze. Barthes, der schon in einem frühen Text 1957 festgestellt hatte, dass nichts der Infragestellung durch die Geschichte entgehen kann, „nicht einmal das ‚Gut-Schreiben‘“, sieht im Verhältnis des gut Gesagten und schlecht Gedachten „das ganze Problem der Schreibweise“.
Damit ist das Neutrum zurück in den Kämpfen der Zeit. „Es gibt keinen Ausweg aus der Arroganz als das Zurückhalten der Interpretation, die Suspension des Sinns“, schließt Barthes. Oder anders gesagt: Es geht um eine Sprache, die nicht „ich“ spreche, sondern „es“. Es ist in diesem Fall, die unortbare Sprache, in der das „Begehren zirkuliert und nicht die Herrschaft“.
Roland Barthes: „Das Neutrum. Vorlesung am College de France 1977–1978“. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Edition Suhrkamp, Frankfurt/Main 2005, 346 S., 12 EuroRoland Barthes: „Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV“. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Edition Suhrkamp, Frankfurt/Main, 2006, 404 S., 16 €