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Archiv-Artikel

Die neue Volksgemeinschaft

Der ultimative Test zur Einbürgerung: Nur wer im Ernstfall bereit ist, für Deutschland zu sterben, ist Deutscher. Wo die aktuelle Integrationspolitik landet, wenn sie „Du bist Deutschland“ mit Gemeinschaftstheoretikern wie Udo di Fabio kombiniert

VON NIELS WERBER

Als Charles Lindbergh im Jahre 1940 Präsident der USA wurde und Kooperationsverträge mit dem Großdeutschen Reich schloss, nahm er einen Rabbi in seine Regierung auf und erklärte die Integration der jüdischen Bevölkerung zu den Hauptzielen seiner Innenpolitik. Die immer noch in homogenen Vierteln zusammenwohnende Bevölkerung der Juden sollte mit Förderungsprogrammen dazu gebracht werden, ihre Selbstisolation zu beenden und auch zuvor untypische Berufe zu ergreifen, etwa im landwirtschaftlichen Sektor.

Stadtteile mit beinahe ausschließlich jüdischen Einwohnern sollte es bald nicht mehr geben, und mit der Infrastruktur, so die Hoffnung, werde schließlich auch der Typus des Gettojuden ganz verschwinden. Die in der dritten Generation in Newark, New Jersey lebende Familie des jüdischen Versicherungsmaklers Roth erlebte diese Politik allerdings als Anschlag auf ihre kulturelle Identität, auch wenn die neuen italienischen Nachbarn, welche die alten jüdischen Freunde nach und nach ersetzten, sympathisch waren.

Dies Szenario ist fiktiv. Phillip Roth fingiert in seinem großartigen Roman „The Plot against America“, wie eine nationale Integrationspolitik, die das Ziel verfolgt, alle Unterschiede zwischen den weißen Einwanderer-Ethnien verschwinden zu lassen, als Vorspiel einer antisemitischen Vernichtungspolitik erlebt wird. Die Juden, lernt man in dem Buch, schätzen ihre Gleichberechtigung vor dem Gesetz und die Chancengleichheit in der amerikanischen Leistungsgesellschaft, aber sie wollen sich nicht im amerikanischen melting pot einkochen lassen. Sie lehnen jede Integration ab, die ihnen mit den Gettos die Möglichkeit raubt, anders zu sein.

Die aktuelle Integrationspolitik in Deutschland zählt dagegen die „Gettoisierung“ von Migranten zu ihren „gravierenden Problemen“, um das Vorwort der nordrhein-westfälischen Landesminister zum Handbuch „Integrationsarbeit“ zu zitieren. Diese Orientierungshilfe für Kommunen rät bei der Wohnraumzuweisung für „Neuzuwanderer“ ausdrücklich zur „Vermeidung der Konzentration in einzelnen Stadtteilen“. Bloß keine Konzentration. Es ist das „Ziel der Landesregierung, ethnische Segregationen zu verhindern, da sie dem Ziel der Integration der Zuwanderinnen und Zuwanderer und ihrer Partizipation in der deutschen Gesellschaft entgegenstehen“, wie es im 3. Bericht der Landesregierung zu Zuwanderung und Integration heißt.

Da es bislang leider keine Äußerungen von Maria Böhmer, der neuen Staatsministerin für Integration im Bundeskanzleramt, zur Integration gibt und das Thema auf ihrer Website auch gar nicht auftaucht, muss die hervorragend dokumentierte Arbeit des Integrationsministeriums NRW den in Roth’ Roman dargestellten Zusammenhang illustrieren. Das Amt legt freilich Wert darauf festzustellen, dass Integration nicht auf die „Assimilation“ oder „Angleichung“ der Migranten ziele, sondern auf ihre „Verknüpfung“ mit dem „bestehenden System sozioökonomischer, rechtlicher und kultureller Beziehungen“. Integration sei ein „ergebnisoffener“ Prozess des Austauschs zwischen „gleichberechtigten Partnern“, so als ob es darum ginge, den deutschen Fußball brasilianischer und die deutsche Küche italienischer zu machen.

Stabile Sozialkontakte

Deutlicher wird die Negativliste. Als „Krisenindikatoren“ gescheiterter Integration gelten die „Zunahme ethnischer Konzentrationen auf dem Wohnungsmarkt, die Stabilität innerethnischer Sozialkontakte (im Sinne des Entstehens von Parallelgesellschaften)“ sowie die „ausbleibende Identifikation mit dem Aufnahmeland auch im Generationenverlauf“. Ethnische Konzentration führt zu Parallelgesellschaften, und wo diese einen stabilen kulturellen Rahmen gewähren, bleibt die Identifikation mit der „aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft“ aus.

Integration meint also Identifikation mit Deutschland. Sie unterbleibt überall dort, wo Zuwanderer Gettos bilden, deren Existenz deshalb nicht hinzunehmen ist, weil zu den direkten Folgen dieser kulturellen Gettoisierung nicht etwa eine unverfälscht nahöstliche Küche oder authentische Haartracht, sondern die „Zunahme von abweichendem Verhalten (Sucht-, Drogen-, Gewalt- und/oder Kriminalitätsproblematiken)“ zählen. Der Begriff des Gettos ist natürlich derart negativ besetzt, dass eine möglichst breite Zerstreuung der Migranten im deutschen „Sozialraum“ opportun zu sein scheint, um Diffusionseffekte für den Prozess der „kulturellen Annäherung“ zu nutzen, an dessen Ende die „Identifizierungsbereitschaft“ der Migranten mit den aufnehmenden „nationalen, regionalen und lokalen“ Gemeinschaften steht.

Es reicht also nicht, der Schul- oder Wehrpflicht zu genügen, im Geschäft des Onkels zu arbeiten, Steuern zu zahlen, am 1. Mai keine Autos anzuzünden und in der Parallelgesellschaft des eigenen Kiezes zu leben, denn es geht um mehr als um Gesetzestreue und das „Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung“. Dass man seine westlich gekleidete Schwester oder seinen homosexuellen Bruder nicht erschießt und das „Gewaltmonopol“ des deutschen Staates achtet, wie der vom Stuttgarter Innenministerium entwickelte Gesprächsleitfaden von einbürgerungswilligen Muslimen fordert, betrifft ja auch nur die Bereitschaft zur Rechtskonformität, nicht zur Identifikation.

Die neue Integrationspolitik fordert dagegen eine aktive Integration in jene deutsche Gemeinschaft, die von der gerade ausgelaufenen Kampagne „Du bist Deutschland!“ so vehement heraufbeschworen wurde. Das Gesetz zu achten und die „Akkulturation“ Touristen und Trachtengruppen zu überlassen, genügt nicht mehr, wenn „Identifizierungsbereitschaft“ gefordert ist. Statt Subkultur einer Gesellschaft sollen die Migranten zum Teil des Ganzen werden.

Eine vitale Gemeinschaft

Nur eine „schwache“ Kultur begnüge sich mit der Inklusion von Migranten in die Gesellschaft, schreibt Udo di Fabio in seinem Essay „Die Kultur der Freiheit“. Eine „vitale“ Gemeinschaft dagegen verfüge über „größere Integrationsfähigkeiten“, denn ihre „Kraft“ ziehe alle „neu Hinzukommenden in ihrer kulturellen Orientierung an die Seite“. Deutschland habe das Potenzial zu solch einer „vitalen“ Gemeinschaft, da können sich die Prominenten aus dem „Du bist Deutschland!“-Spot mit di Fabio einig wissen. Die „neue Kraft“ in, für und als Deutschland entstehe, wenn die Menschen aufhörten zu überlegen, was der Staat alles für sie tun könne, um lieber sich selbst zu fragen, was „man selbst besser machen kann“. Es ist die legendäre Frage von JFK. Wer sie sich stellt, wohnt nicht nur hier, sondern ist Deutscher.

Di Fabio, der gelegentlich als Systemtheoretiker bezeichnet wird, weil er Luhmann zitiert, würdigt zwar die nach „sozialen Funktionen gegliederte Gesellschaft“ als effizient, doch erzeuge dieses sozialtechnische „Ensemble“ weder ein „Gemeinschaftsethos“ noch ein „auch positive Inhalte umfassendes Wertesystem“. Die Gesellschaft lasse den Menschen „bindungslos“ allein, die „Autonomie“ der Systeme sei zu einer „argen Last“ geworden.

Luhmanns kühle Beschreibung der Moderne wird so an entscheidender Stelle revidiert: Der ganze Mensch, den die Systemtheorie links liegen lässt und nur in Form seiner Funktionsrollen beobachtet, soll wieder integriert werden, und da sich die funktionsdifferenzierte Gesellschaft zwar für Steuerzahler, Patienten, Klienten, Kunden oder User, nicht aber für „den Menschen“ hinter den Rollen interessiert, soll die Gemeinschaft den Menschen substanziell als ihren Teil aufnehmen. Ihre „Natürlichkeit“ wird der Artifizialität der „westlichen Gesellschaft“ entgegengestellt. Hierzulande seien leider die naturwüchsigen „Grundlagen der Gemeinschaft erodiert“, weshalb unsere Kul- tur ihre „Integrationsfähigkeit“ eingebüßt habe. Um sie zu erneuern, müsse Deutschland wieder zu einer „vitalen und selbstgewissen“ Gemeinschaft werden, die „durch das Vorbild guten, kraftvollen Lebens“ je- den Einwanderer oder Nörgler dafür begeistert, Deutscher zu sein.

Genau dieses Ziel hat sich die nach eigenen Angaben „größte Social-Marketing-Kampagne in der Mediengeschichte der Bundesrepublik“ gesetzt. „Wir sind 82 Millionen.“ Wenn der Migrant sich endlich sagen lässt, dass auch er Deutschland ist statt ein Mitglied einer Minderheit, dann lösen sich die Gettos und Parallelgesellschaften von selber auf. „Du bist 82 Millionen.“ Du bist Teil einer „Schicksalsgemeinschaft“, wie di Fabio formuliert, die gemeinsam erinnert, jubelt, arbeitet und teilt.

Prima, aber „Schicksalsgemeinschaft zu sein“ heißt im Zweifel auch, so di Fabio weiter, „sein Leben im Kampf für die Gemeinschaft zu opfern“. Dieser Gemeinschaftsbegriff löst sich von ethnischen, sozialen oder religiösen Differenzierungen und übernimmt aus Kleists „Katechismus der Deutschen“ von 1809 den ultimativen Integrationstest. Wer im Ernstfall bereit ist, für Deutschland zu sterben, ist Deutscher. Wer nicht, dem mangelt es an Integrationsbereitschaft.