: Könige des Lumpenproletariats
Lateinamerika, deine Linkspopulisten: Evo Morales in Bolivien, Ollanta Humala in Peru und Hugo Chávez in Venezuela sind das Resultat von zwanzig Jahren Neoliberalismus
Nie zuvor hatte Bolivien einen authentischeren Präsidenten als Evo Morales. Er gehört, wie die Mehrheit des Landes, zur indigenen Bevölkerung. Er ist, wie die Mehrheit, in Armut groß geworden. Er kaut, wie die Mehrheit, gerne Kokablätter und führte sogar die Gewerkschaft der Kokabauern an. Die Wahl im Dezember hat er gleich in der ersten Runde mit absoluter Mehrheit gewonnen: Das ist in den vergangenen zwanzig Jahren keinem Kandidaten gelungen.
In den 180 Jahren seiner Geschichte als unabhängiger Staat wurde Bolivien entweder von Militärs regiert oder von Vertretern der schmalen, überwiegend weißen Oberschicht. Jetzt hat es also einen Indígena, und einen linken dazu. Das scheint zur derzeitigen politischen Konjunktur Lateinamerikas zu passen: Im benachbarten Chile löst die Sozialistin Michelle Bachelet ihren Parteifreund Ricardo Lagos im Präsidentenamt ab. Argentinien wird von dem Linksperonisten Nestor Kirchner regiert. In Uruguay ist mit Tabaré Vázquez ebenfalls ein Linker an der Macht, in Brasilien der ehemalige Arbeiterführer Lula da Silva und in Venezuela der Linkspopulist Hugo Chávez.
Und es sieht ganz danach aus, als ginge es weiter: Bei der Wahl in Peru im April zählt der linke Kandidat Ollanta Humala zu den Favoriten, er wird von Chávez bereits heftig umgarnt. Allen Umfragen zufolge wird im Juli in Mexiko der Linkspopulist Andrés Manuel López Obrador gewählt, und im November dräut in Nicaragua die Rückkehr des Sandinisten Daniel Ortega.
Nach zwanzig Jahren unter der Knute von Militärs und weiteren zwanzig mit überwiegend erfolglosen bürgerlichen Regierungen ist Lateinamerika wieder links. Doch so einheitlich, wie es auf den ersten Blick erscheint, ist das Bild gar nicht. Bachelet nennt sich zwar Sozialistin, ist aber nach deutschen Maßstäben eine gemäßigte Sozialdemokratin. Vázquez aus Uruguay gehört in dieselbe Kategorie. Kirchner ist ein autoritärer Charakter, der mit 22 Prozent der Wählerstimmen eher zufällig ins Präsidentenamt kam und dann versuchte, seine Anhängerschaft mit antikapitalistischer Rhetorik und einem Streit mit dem Internationalen Währungsfonds zu erweitern. Eine Übung ohne Risiko: Argentinien lag bereits wirtschaftlich am Boden und hatte nichts mehr zu verlieren. Anders als das Nachbarland Brasilien, wo der einstige linke Hoffnungsträger Lula von einem korrupten Parlament und den internationalen Finanzinstitutionen eingezäunt und handzahm gemacht wurde. Auch von López Obrador ist kaum mehr zu erwarten als mäßige Sozialdemokratie. Und Daniel Ortega in Nicaragua geht es schon lange nur noch um die eigene Macht.
Neu ist an diesen Figuren eigentlich nichts. Sie machen Politik, wie man in Lateinamerika schon immer Politik gemacht hat, sieht man einmal von den Zeiten der Militärdiktaturen ab. Je reicher und entwickelter ein Land ist (Beispiel Chile und Uruguay), desto mehr gleichen die Muster europäischen Vorbildern. Je ärmer und krisenanfälliger es ist, desto autoritärer werden die Politiker. Sie jonglieren mit Kungeleien, Schmiergeldern und starken Versprechungen. Das aber ist ein riskantes Spiel. Nirgendwo in der Welt wurden deshalb in den vergangenen Jahren so viele Präsidenten gestürzt wie in Lateinamerika.
Linkspopulisten wie Chávez, Morales und Humala sind weder Sozialisten europäischer Prägung noch zynische Machtjongleure, sondern schlicht das Produkt einer Gesellschaft, die zwei Jahrzehnten neoliberaler Politik hinter sich hat. In dieser Zeit ist die vorher hinter hohen Zollschranken aufgepäppelte Industrie zusammengebrochen, die Wirtschaft auf den Agrarsektor und ihre Bodenschätze zurückgeworfen worden. Ein paar nationale Oligarchen und internationale Konzerne zocken den damit erwirtschafteten Reichtum ab. Für die, die im informellen Sektor ums Überleben kämpfen, fallen kaum noch Investitionen in Gesundheit und Bildung ab. Das Volk verelendet und verdummt. In Venezuela, Bolivien und Peru stellt dieses Lumpenproletariat heute die Mehrheit. Chávez, Morales und Humala sind seine Könige.
Neulich, beim Antrittsbesuch von Evo Morales in Venezuela, haben sich die drei getroffen und ewige Treue geschworen. Doch wenn man ihrer oft schwer erträglichen Rhetorik ein wenig genauer zuhört, passen sie eigentlich gar zusammen. Hugo Chávez trägt stets den Edelmann Simón Bolivar als Heiligenfigur vor sich her – einen „Befreier“, der ebenjene Verhältnisse mit geschaffen hat, die Evo Morales so schnell wie möglich rückgängig machen will. Auch der Peruaner Ollanta Humala, obwohl selbst Mestize, bedient sich indianischer Folklore und würde am liebsten zurück ins Inkareich. Er ist der chauvinistischste der drei Neopopulisten und will, sollte er Präsident werden, chilenische Investoren aus dem Land werfen und dem Nachbarland weder Öl noch Gas verkaufen – das Gegenteil also zu der Vision eines vereinigten Südamerikas, die Chávez propagiert. Freilich: Es wird lange nicht alles so heiß gegessen wie gekocht. Auch Morales hatte im Wahlkampf versprochen, er werde die Öl- und Gasproduktion des Landes verstaatlichen. Vergangene Woche aber hat er Lula da Silva versichert, die brasilianische Firma Petrobras – der größte ausländische Investor in Bolivien – sei davon selbstverständlich nicht betroffen. Wie er das seinen Anhängern klar machen will, weiß nur er selbst.
Bislang hat Morales nur bewiesen, dass er Präsidenten fast nach Belieben stürzen kann: Gonzalo Sánchez de Lozada ist im Oktober 2003 nach von Morales geführten Unruhen aus dem Amt geflohen, dessen Nachfolger Carlos Mesa im Juni vergangenen Jahres nach ähnlichen Protesten entnervt zurückgetreten. Im Wahlkampf hat Morales viel versprochen. Wenn er als Präsident davon zu wenig einlöst, kann ihn schnell dasselbe Schicksal ereilen. Boliviens Indígenas kennen inzwischen ihre Macht.
Ollanta Humala in Peru ist noch schwerer einzuschätzen als Morales. Außer einem kläglich gescheiterten Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten Alberto Fujimori im Jahr 2000 ist von ihm kaum etwas bekannt. Aber auch Chávez hat einmal als gescheiterter Putschist angefangen. Man kann ihm heute noch autoritäres Gehabe und wenig Sinn für Rechtsstaatlichkeit vorwerfen. Aber immerhin: Er macht eine ganz ordentliche Sozialpolitik. Einen Teil der reichlich fließenden Millionen aus dem Erdölgeschäft gibt er für Gesundheits- und Bildungsprojekte in den Slums aus. Weil das vor ihm vierzig Jahre lang keine Regierung getan hat, lieben ihn die Armen auch nach mehr als sieben Jahren noch.
Ohne Investitionen in Bildung wird das Massenelend in Lateinamerika sicher nie überwunden. Mit solchen Investitionen besteht immerhin die Chance, dass das dann zu Bewusstsein gekommene Lumpenproletariat dereinst weniger dumpf-populistische Präsidenten wählen wird.
Chávez ist also auf keinem schlechten Weg. Nur: Evo Morales wird in Bolivien viel weniger zu verteilen haben.
TONI KEPPELER