: Sozialdemokratische Kindereien
Die Platzeck-SPD liegt falsch: Zufriedenheit entsteht nicht durch Kinder, sondern durch ausreichendes Einkommen und ein lebenswertes Verhältnis von Arbeits- und Freizeit
Statt wie früher „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ zu rufen, setzen die Sozialdemokraten heute auf „Kinder, Kinder, Kinder“. So beschreibt die Deutsche Presse-Agentur dpa die Ergebnisse der Klausur des SPD-Parteivorstands in Mainz. Die neue Heilsgestalt der Rest-Sozialdemokratie, Matthias Platzeck, hatte die Parole ausgegeben, Gerechtigkeit jetzt nur noch als Bildung plus Familie zu buchstabieren.
Das mag zunächst nicht unsympathisch klingen, sind Deutschlands politische Defizite in beiden Dimensionen doch bekannt. Gegen eine Steigerung der Bildungsanstrengungen kann niemand vernünftigerweise etwas haben, und was spricht schon gegen mehr Kinder?
Es bleibt aber ein gehöriges Unbehagen an diesem Schnellschuss. Denn das Pathos der neu gewendeten Sozialdemokratie ist schlecht begründet und der Vorstoß verrät mehr durch seine Auslassungen denn durch seine Behauptungen. Das in Mainz beschlossene Positionspapier fängt mit der starken programmatischen These an, dass für die meisten Menschen „Kinder zu bekommen die Grundlage für Lebenszufriedenheit“ sei. Schon falsch.
In den letzten Jahren hat es einen Aufschwung in der Lebenszufriedenheitsforschung in Deutschland wie international gegeben. Vor allem aus den mittlerweile zahlreichen und vielfältigen Umfragen wissen wir jetzt sehr viel mehr, welche Umstände Menschen eher glücklich oder zufrieden machen und welche eben nicht.
Bezüglich der Dimension Kinder gilt leider, dass hier kein eindeutig positiver Einfluss auf die subjektive Lebenszufriedenheit zu extrahieren ist. Auch wenn das persönliche Einkommen und andere wichtige Einflüsse berücksichtigt werden, wird oft gar keine oder häufig sogar eine negative Wirkung festgestellt. Dass Kinder auch ganz schön nerven können, vor allem Paarbeziehungen auf eine harte Probe stellen, wissen Eltern wie manch andere – und dies zeigen dann auch die Sozialwissenschaften.
Das ist kein Argument gegen die Förderung von Familien. Schließlich werden in der Bundesrepublik zwar etwa 1,8 Kinder gewünscht, aber nur 1,3 tatsächlich realisiert. Aber es ist ein Argument gegen die Vorstellung „Gute Wirtschafts- und Arbeitspolitik beginnt mit Kindern“, wie das SPD-Positionspapier forsch behauptet.
Auf jeden Fall endet eine gute Wirtschafts- und Arbeitspolitik sicher nicht damit. Denn umgekehrt wissen wir sehr genau, was Menschen nicht glücklich macht: Arbeitslosigkeit vor allem. Arbeitslosigkeit wirkt weit über den Einkommensverlust hinaus auf die Lebenszufriedenheit. Seine Minuswirkung ist nur mit schweren körperlichen Schädigungen zu vergleichen, die oft genug in Form chronischer Krankheiten dann noch folgen.
Arbeitslosigkeit wirkt weiter auch noch zeitlich verzögert: selbst wenn wieder ein Job gefunden wird, erreicht die Zufriedenheit der Betroffenen nicht mehr die alte Höhe, es bleiben Vernarbungen zurück. Und noch etwa gilt: ein Umfeldeffekt. Eine hohe regionale Arbeitslosigkeit wirkt auch bei denen mindernd auf das Glück, die einen Job haben.
Selbst wenn Menschen persönlich ganz ungefährdet sind, weil etwa im öffentlichen Dienst, ihre Familienmitglieder, ihre Freunde und Nachbarn sind es nicht. Wer etwas zur Steigerung der Lebenszufriedenheit in Deutschland tun will, der muss vor allem Arbeitslosigkeit bekämpfen. Die ganz alte Parole der ganz alten SPD „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ war deshalb so schlecht nicht.
Und wir wissen weiter, dass sich auch gesellschaftliche Ungleichheit negativ auf die Lebenszufriedenheit von Menschen wirkt. Man muss sich dabei nicht selbst ganz unten auf der Einkommens-, Bildungs- oder Karriereleiter befinden, um den dadurch ausgelösten „sozialen Stress“ zu spüren. Der negative Effekt tritt auch weiter oben noch auf. Er wirkt dabei nicht nur auf die zu Protokoll gegebene Zufriedenheit, sondern betrifft sogar noch die Gesundheit und die Lebenserwartung der Betroffenen. Als „kranke Gesellschaften“ beschrieb ein Sozialmediziner diese bisher wenig diskutierte Wirkung.
Auch wenn die Standardökonomie es nicht wahrhaben möchte: Menschen scheinen doch recht soziale Wesen im ursprünglichen Sinn zu sein, also durchaus interessiert am Befinden anderer in der Gesellschaft. Auch hier gilt deshalb: Wer eine Steigerung der Lebenszufriedenheit in Deutschland erreichen will, muss für eine geeignete Umverteilungspolitik von oben nach unten sorgen. Die glaubhafte Freude des brandenburgischen Ministerpräsidenten am skandinavischen Beispiel sollte sich in Zukunft also auch auf die Steuerpolitik und den Umfang des dadurch möglichen Sozialstaats erstrecken.
Schließlich gibt es noch einen zentralen Bereich, wo der Platzeck-SPD gar nichts Rechtes zu einfallen wollte, die Arbeitszeit. Im Mainzer Positionspapier ist nur von der Lebensarbeitszeit die Rede und davon, dass Ausbildung, Berufseinstieg, Familiengründung besser vereinbart werden sollen. Auf die Lebenszufriedenheit wirkt anderes stärker.
Für einen großen Teil der gegen Geld beschäftigten Bevölkerung in Deutschland wird hier und heute schlicht zu viel gearbeitet. Sie sind deshalb bereit, auch gegen eine proportionale Veränderung ihres Arbeitseinkommens ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Sicher, es gibt andere, die dagegen aufstocken wollen, vor allem Männer in Nichtvollzeit. Aber dies ist die klare Minderheit, und in der Summe bleibt ein erheblicher Nettogewinn an umzuverteilender Zeit übrig, was eine gute Nachricht für Arbeitssuchende ist.
Die Differenz zwischen gewünschter und tatsächlich abzuleistender Arbeitszeit hat sich als stark wirkend auf die Zufriedenheit herausgestellt. Wer mehr arbeiten muss als gewünscht, ist ebenso wenig glücklich wie wer weniger arbeiten darf, als er oder sie möchte. Neben einem Effekt des Einkommensreichtums spielt bei der Zufriedenheit also auch der Zeitwohlstand eine große Rolle. Vor allem Frauen mit kleineren Kindern wollen in der Regel weder vollzeitbeschäftigt sein noch auf die Rolle der Familienmutter reduziert werden.
Aber Arbeitgeber dazu zu bringen, ihre Überstunden zu reduzieren und Tarifverträge mit niedriger Wochenarbeitszeit und flexibleren Teilzeitvarianten abzuschließen, ist der SPD wohl zu heiß. Das riecht dann ja wieder nach alter Sozialdemokratie und „sozialstaatlichen Lösungen der Vergangenheit“, wie das Positionspapier mäkelig die eigene Geschichte der SPD zu entsorgen versucht.
Natürlich waren die Vergangenheitslösungen kritikwürdig. Aber aus einem anderen Grund, als dabei unterstellt wird. Die deutsche Politik litt daran, im Bereich der Arbeitszeit bestenfalls appellativ zu sein und das Wesentliche den Tarifparteien zu überlassen. Skandinavische Lösungen haben bei aller Pragmatik dagegen den Reiz, dem Staat hier eine größere Rolle zuzusprechen. Was also spricht dagegen, auch hier von Nordeuropa zu lernen? GERD GRÖZINGER