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Archiv-Artikel

Ein toller Geschichtenerfinder

Schriftsteller, die ich gerne wäre, Teil 6: Sigmund Freud. Schließlich verstand niemand Autoren so wie der Begründer der Psychoanalyse, das zeigt schon seine Beschreibung der depressiven Persönlichkeit. Ein Beitrag zum Freud-Jahr 2006

VON JOCHEN SCHMIDT

Es ist heute billig geworden, zu behaupten, die Psychoanalyse sei gar keine Wissenschaft, es gebe kein Unbewusstes, Freud habe sich in allem geirrt. Dabei ist das so sinnvoll, wie zu sagen, Kafka habe sich in allem geirrt, es gibt gar kein Schloss und schon gar keine sprechenden Mäuse. Freuds Methode war die Selbstanalyse, er kann sich also höchstens falsch beschrieben haben. Aber man kann sich ja eigentlich gar nicht falsch beschreiben, „der Text ist klüger als der Autor“ (Heiner Müller).

War Freud ein Wissenschaftler oder ein Schriftsteller? Bewundernswert ist seine Fantasie, wenn es darum ging, die Wirklichkeit seinen Thesen anzupassen, eine grundlegende Qualität großer Autoren. Zum Beispiel im Fall der Konversionshysterie, des Auslebens von Gefühlen in symbolischer Gestalt. Leidet der Patient unter einem Würgen in der Kehle, gelingt es ihm nicht, eine seelische Verletzung „zu schlucken“. Viele Brillenträger sind nur nicht bereit, der Realität ins Auge zu sehen, und drücken das symbolisch mit Kurzsichtigkeit aus.

Besonders virtuos ist Freud bekanntlich darin, alle Erscheinungen auf Sexualität zurückzuführen: „Von welchem Fall und von welchem Symptom immer man seinen Ausgang genommen hat“, schreibt er, „endlich gelangt man unfehlbar auf das Gebiet des sexuellen Erlebens.“ Alle Formen von menschlichen Beziehungen sind nur „zielgehemmter“ Ersatz für Sex. Streben nach Erkenntnis wird von der frühkindlichen sexuellen Neugier abgeleitet. Sparsamkeit verdankt sich dem Verlangen des Kinds, Lust zu gewinnen, indem es seine Fäkalien so lange wie möglich zurückhält.

Da er von der Selbstanalyse ausging, tat Freud sich schwer, die Frauen zu erklären. Aber seine Fantasie half ihm auch hier weiter, etwa beim weiblichen Ödipuskomplex. Das Mädchen ist enttäuscht von der Mutter, weil es sie dafür verantwortlich macht, keinen Penis zu haben. Daher fantasiert es, vom Vater geschwängert zu werden. Das vorgestellte Kind ersetzt ihm den fehlenden Penis. Da fällt es einem wie Schuppen von den Augen, wenn man an manche Auseinandersetzung mit der Exfreundin denkt. Auch dass es damals sexuell nicht richtig klappte, hat einen einfachen Grund: Man war zu pazifistisch erzogen. Denn Balgereien sind ein Weg, kontrollierten Einsatz von Aggression zu lernen, und begünstigen ein erfülltes Sexualleben. Wer sich als Jugendlicher nicht geprügelt hat, wird nie ein zärtlicher Liebhaber sein!

Berühmt ist Freud für die freie Assoziation. Der Patient lag dabei auf dem Sofa, Freud saß am Kopfende, außer Sichtweite. Um den Patienten nicht zu beeinflussen, könnte man meinen; die Sache war aber auch die, dass es ihm als Zwangsneurotiker (täglich besuchte ihn ein Friseur!) unangenehm war, Tag für Tag zehn Stunden von Patienten angestarrt zu werden.

Kritik ist Zustimmung

Es ist übrigens wichtig, den Patienten bezahlen zu lassen, egal, ob er die Stunde versäumt hat oder nicht. Wenn er nicht zahlen müsste, würde er die Stunden gerade dann schwänzen, wenn eine neue Entdeckung bevorsteht. Auch als Autor hat man diese Erfahrung gemacht – zahlen die Zuschauer nicht, leiden sie an sich selbst, schwatzen oder kommen erst gar nicht. Ich habe oft beobachtet, dass sich gerade bestimmte Zuschauer rar machen, wenn sie Wahrheiten über sich zu befürchten haben. Mit höheren Eintrittspreisen würde man ihnen nur helfen.

Die Parallelen zwischen Zuschauer und Patient sind ohnehin auffällig. Wenn Freud schreibt: „Das ‚Nein‘, das man vom Patienten hört, nachdem man seiner bewussten Wahrnehmung zuerst den verdrängten Gedanken vorgelegt hat, konstatiert bloß die Verdrängung und deren Entschiedenheit, misst gleichsam die Stärke desselben.“ So vermute auch ich hinter jeder Kritik an meinen Texten nur verdrängte Zustimmung, je entschiedener die Kritik, umso stärker die Verdrängungsleistung.

Eine andere Parallele steckt hinter Freuds Hinweis, dass die Behandlung von Frauen oder Kindern von Freunden einen die Freundschaft kosten könne, egal wie die Analyse ende. So ist es auch beim Schreiben, egal ob man jemanden positiv oder negativ darstellt, die Freundschaft ist gefährdet. Vielleicht kann es gar keine Freundschaft geben zwischen Autor und Patient.

Auch das schwierigste Problem der psychoanalytischen Praxis, die Übertragung, ist einem als Schriftsteller geläufig. Patienten sehen im Analytiker einen idealisierten Liebhaber, eine Vaterfigur und einen Erlöser. Was sie wollen, ist nicht seine Wissenschaft, sondern seine Liebe. Auch ich beobachte oft, dass Leser nicht an meinen Texten interessiert sind, sondern erlöst werden wollen. Natürlich verbietet einem das Berufsethos, auf solche Angebote einzugehen. Man würde dem Leser, also dem Patienten, schaden. Im Übrigen hat Freud erkannt, dass es sich hier nie um wahre Gefühle handelt, sondern immer um Wiederholungen der Vergangenheit.

Niemand verstand uns Autoren wie er, das zeigt seine Beschreibung der depressiven Persönlichkeit, eigentlich ein Porträt des Autors. Er ist hungrig nach Zustimmung und versucht, Kritik zu vermeiden, die ihn in Depressionen stürzen könnte. Sein starkes Verlangen, zu gefallen, macht ihn übersensibel für das, was andere fühlen, und führt dazu, dass er sich damit zu identifizieren versucht; eine völlige Verdrängung seiner selbstsicheren oder aggressiven Seite. Noch interessanter in Fällen, wo sich Depression mit manischen Phasen abwechselt, also die Spaltung von Ichideal und Ich aufgehoben wird. Wenn man gelernt hat, nur auf sein eigenes Urteil zu hören, schwankt man ständig zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzerfleischung. Und jeder Autor ist infolge jahrelang geübter eiserner Selbstdisziplin ein halber Zwangsneurotiker, weil Entsagung und Konzentration phasenweise zur völligen Gehemmtheit und zum Verlust jeglicher Spontaneität führen.

Die erste Totemmahlzeit

Geradezu poetisch wirkt Freuds Fantasie in „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“, wenn er sich den Freud’schen Fehlleistungen widmet. Einmal kann er sich nicht an den Namen des Künstlers erinnern, der die berühmten Fresken in der Kathedrale von Orvieto gemalt hat. Statt Signorelli fallen ihm nur Botticelli und Boltraffio ein. Die Erklärung dafür ist denkbar einfach: Sie liegt in seiner Abneigung, mit Fremden über Sexualität zu sprechen, und seinem Wunsch, den Selbstmord eines früheren Patienten zu vergessen. Denn hinter Signorelli steht „Signor“, also „Herr“, aus „Herzegowina“. Das „Bo“ von Botticelli und Boltraffio kommt von Bosnien. Bosnien und Herzegowina waren zu dieser Zeit von den Türken besetzt, über deren sexuelle Gebräuche sich Freud nur ungern mit seiner Reisebekanntschaft unterhalten wollte. Zudem erfuhr er während eines Aufenthalts in Trafio vom Selbstmord eines seiner Patienten. Trafio steckt in Boltraffio. Deshalb fielen ihm statt Signorelli nur Botticelli und Boltraffio ein!

Noch abenteuerlicher wird es 1913 in „Totem und Tabu“, Freuds Entwurf einer Menschheitsgeschichte. Am „kleinen Hans“ hatte er studiert, wie ein Totem als Stellvertreter für den Vater stehen kann, in dem Fall Pferde, von denen gebissen zu werden Hans fürchtete. Das sei aber nur eine Verdrängung und Projektion seiner Feindseligkeit gegen seinen Vater gewesen. In der Menschheitsgeschichte sei es ähnlich gelaufen. Ein Vater hat die Urhorde dominiert. Er hat alle Frauen für sich beansprucht und dem Inzest vorgebeugt, indem er jüngere Rivalen vertrieb. „Eines Tages“, schreibt Freud, „taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater […] Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.“ Auch Moses sei in Wirklichkeit ermordet worden, daher das latente Schuldgefühl im jüdischen Volk. Überhaupt ist Religion eine „universelle Zwangsneurose“, wie er in „Die Zukunft einer Illusion“ schreibt. Das so genannte ozeanische religiöse Gefühl ist ihm persönlich dabei unzugänglich. Er vergleicht es mit Verliebtheit, in der sich der Liebende eins mit dem geliebten Menschen fühlt, also einer extremen Regression in ein sehr frühes Stadium: das des Säuglings an der Brust, bevor er gelernt hat, sich von der Mutter zu unterscheiden.

Heute weiß keiner mehr richtig, was Psychoanalyse ist. Die Unterscheidung zwischen gesund und krank ist ja auch obsolet. „Normale“ sind einfach ihrer Meinung nach weniger neurotisch. Man hat von einer säkularisierten Art von Erlösung gesprochen. Und wenn es dem Patienten nach der Behandlung nicht besser geht, kann der Psychoanalytiker ihn immer überzeugen, dass die Schuld bei ihm selbst liegt, genau wie bei der religiösen Erlösung. Und genau wie bei der Literatur, möchte man hinzufügen, wo auch immer der Leser schuld ist, wenn ihn ein Text nicht interessiert. Er ist eben mit seiner Selbstanalyse noch nicht weit genug gekommen, um einzusehen, dass ihn mein Buch eigentlich tief berührt.

Über die ersten vier Schriftsteller, die Jochen Schmidt gerne wäre – Thomas Bernhard, Goethe, Kafka, Beckett –, kann man nachlesen in seinem Buch „Seine großen Erfolge“ (dtv premium). Als fünfter Schriftsteller wäre er gern Rousseau. Der Text dazu ist bislang unveröffentlicht