: Geisterhafte Busfahrten
Notizen vom Jahresende aus dem zerstörten New Orleans. Noch sind zwei Drittel der Stadt ohne Strom. Nur der Katastrophen-Tourismus der Grey-Line-Tours funktioniert trotz erster Proteste
VON UTE SPRINGER
Auf der Interstate I10 East von Baton Rouge nach New Orleans ist viel Verkehr, wie jeden Morgen. Aber das war es dann auch mit der Normalität. Bald sind erste abgedeckte Dächer, geschützt mit blauen Planen, umgestürzte Bäume, zerborstene Fensterscheiben zu sehen. Ich fahre weiter auf der Claiborne Avenue in Richtung Uptown. Hier ist sehr wenig Verkehr. Keine Ampel funktioniert, kaum ein Auto mit Insassen ist zu sehen. Allenfalls hier und da Kranwagen und Männer, die mit Aufräumarbeiten beschäftigt sind. Dafür jede Menge herrenloser Fahrzeuge auf den Grünstreifen rechts, links und in der Mitte der Straße. Angeschwemmt und notdürftig zur Seite geschoben weisen alle dasselbe Merkmal auf: die Wasserlinie.
„Es gibt jetzt nur noch zwei ethnische Gruppen in New Orleans: die mit Wasser im Haus und die ohne“, sagt Bart Ramsey, der mit seiner Frau Neti Vaandrager vor kurzem zurückgekommen ist. Ihr Haus in der Marengo Street ist äußerlich beschädigt, aber zumindest reparabel. Das Innere des Gebäudes stand kniehoch im Wasser, die Schäden sind immens: Alles, was auf dem Boden stand oder lag – Schallplattensammlung, Instrumente, Möbel – muss entsorgt werden. Neti und Bart hatten Glück, dass ihre Fensterscheiben vom Sturm zerschlagen wurden: Modergeruch und Schimmel sind erheblich geringer als nebenan in der untervermieteten Wohnung, deren Fenster standhielten. Mit Gasmasken, Handschuhen und Gummistiefeln machen sich die beiden ans Werk. Das komplette untere Stockwerk wird ausgeräumt, das Haus muss austrocknen. Arbeiten können sie nur tagsüber und ohne Hilfe von Maschinen, es gibt keinen Strom. Sie haben auf unbestimmte Zeit ein Appartment im Faubourg Marigny, nahe dem French Quarter gemietet, ihr Haus ist in diesem Zustand unbewohnbar. Zumal weit und breit kein einziger Laden geöffnet hat, eine Versorgung mit den Dingen des täglichen Lebens ist unmöglich.
Bislang ist in der Nachbarschaft kaum jemand zurückgekehrt. Dort, wo doch einer mit den Aufräumarbeiten begonnen hat, türmen sich im Nu riesige Müllberge vor dem Haus. Nachbarn, die sich vorher kaum oder gar nicht kannten, begrüßen sich, reden plötzlich miteinander, als ob sie schon immer beste Freunde gewesen seien. „Katrina“ schweißt sie zusammen.
Auf dem Weg zum French Quarter auf der St. Charles Avenue sind keine Wasserlinien mehr zu sehen, dafür Sturmschäden. Und es stinkt. Je näher man dem French Quarter kommt, desto mehr. Arbeiter mit Mundschutz sind an der Kanalisation beschäftigt. Der Jackson Square, auf dem sonst das Leben tobt, ist menschenleer. Weiter in Richtung Faubourg Marigny fahrend verbreitet ein Barbecue-Grill am Straßenrand endlich angenehme Gerüche. Nachbarn feiern ihre Rückkehr, jubeln jedem zu, der vorbeikommt.
Weiter geht’s in Richtung 9th Ward im Osten der Stadt. Rechts und links der St. Claude Avenue, unweit des Industrial Canal, sind die Schäden größer. Komplette Fassaden fehlen, ein Haus ist unter der Last eines gestürzten Baums völlig in sich zusammengefallen. Kurz vor der Kanalbrücke ein Kontrollpunkt: Hier kommt nur noch durch, wer einen guten Grund hat. Der Deichbruch auf der östlichen Seite des Kanals hat diesen Teil des 9th Ward und angrenzende Stadtteile nahezu ausgelöscht.
Je weiter ich fahre, desto entsetzlicher werden die Bilder. Zermalmte Häuser, Treppenstufen, die ins Nichts führen, freie Fläche, wo vorher Dutzende Häuser standen. Trümmerberge auf umgestürzten Lkws lassen ahnen, mit welcher Wucht Wind und Wasser hier wirkten. Alles bedeckender grauer Schlamm, die Erde rissig, feucht-modriger Gestank in der Luft. Bewohner sind nirgendwo zu sehen.
Auf dem Rückweg wird es bereits dunkel. Ich werde am Kontrollpunkt zurückgewiesen, muss außen herumfahren. Das sind einige Extrameilen. Beklemmendes Gefühl: außer wenigen Autoscheinwerfern ist alles dunkel. In der Ferne sind das beleuchtete French Quarter und der Business-District zu erkennen, sonst aber herrscht tiefschwarze Nacht. Der Sprit reicht gerade noch bis zur nächsten Tankstelle rund 20 Meilen nördlich der Stadt. Dort, wo wieder Licht ist.
Tags drauf besuche ich Erin Churchill, eine langjährige Freundin. Sie wohnt mitten auf der Bourbon Street. Erst als der Strom und damit die Klimaanlage ausfiel, war sie bereit, zu ihrem Freund nach Baton Rouge zu fahren. Vor ein paar Wochen schon kam sie zurück: Ihr Arbeitgeber brauchte sie dringend. Wenn der Restaurantbetrieb nicht möglich war, sollte wenigstens die Bar schnellstmöglich wieder geöffnet werden.
Schäden in ihrem Appartement hatte Erin so gut wie keine. Den Kühlschrank sauber machen, ein paar Ratten- und Mäuseköttel beseitigen, Dekorationen auf dem Balkon wieder zurechtrücken – das war’s. „Ich drehte den Wasserhahn auf und hatte fließend heißes Wasser. Das bedeutet, dass die Gasversorgung hier im French Quarter nicht unterbrochen wurde
An der Bar treffen wir Sylvie, Mitarbeiterin der Wasserbehörde. „Es ist einfach nicht zu fassen“, wettert sie, „irgendein General gibt hier irgendwelche Befehle, ohne sich jemals über die Sachlage informiert zu haben.“ Als „völlig planlos und unkoordiniert“ beschreibt Sylvie die Aufräumarbeiten. Viel zu früh seien Bewohner in der Stadt zurückgelassen worden, das marode Abwassersystem verkrafte das nicht und sei zudem an vielen Stellen beschädigt.
Später treffe ich mich wieder mit Neti und Bart, ebenfalls im French Quarter. Die aufgewärmte Gumbo, ein Reiseintopf je nach Geschmack mit Geflügel oder Meeresfrüchten, schmeckt nicht so richtig. Dann geht die Tür auf. Umgeben von drei finster blickenden Bodyguards kommt Ray Nagin, der Bürgermeister höchstpersönlich, herein. „Welcome back home“, sagt er und schüttelt Hände. Fotoapparate klicken, dann verlässt er unter Applaus den Raum.
Mein nächster Weg führt nach Slidell, dem nördlichen Ufer des Lake Pontchartrain. Die Autobahn ist fast leer, erst vor einer Umleitung stauen sich die Fahrzeuge. Der Verkehr quält sich langsam über die Brücke. Auf der anderen Seite erwarten mich erneut Bilder aus einem Albtraum: Die Häuser, die einst links der Straße entlang dem kleinen Kanal auf Stelzen standen, liegen jetzt größtenteils als Trümmerberge rechts neben der Straße. Die Bewohner, die hier ausharren, leben seit Monaten ohne Strom oder fließend Wasser. Alle Lebensmittel müssen von weit entfernten Orten, in denen die Infrastruktur bereits wieder funktioniert, herbeigeschafft werden.
Im mexikanischen Restaurant „Blue Tomato“ in Metairie erzählt der Kellner von seinen Freunden, die außerhalb der Stadt an den Bayous wohnen. „Coonasses“ werden die Cajuns gerne von den Städtern genannt. Die meisten „Coonasses“ sind Fischer. „Die sind mit ihren kleinen Booten sofort nach den Deichbrüchen in die Stadt gefahren, haben Tag und Nacht Menschen von Hausdächern gepflückt und in Sicherheit gebracht“, erzählt der Kellner. Tage später erst seien Boote der FEMA und des Militärs im Einsatz gewesen. Die Befehlshaber hätten dann alle Fischer nach Hause geschickt. „Ihre Boote entsprachen nicht den Vorschriften: Sie hatten keine oder nicht ausreichend Schwimmwesten an Bord“.
„Katrina“ hat das Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden ebenso nachhaltig zerstört wie die Häuser. Wer soll das alles wieder aufbauen? Woher soll das Geld kommen? Wie sollen die Menschen denn in die verwüsteten Gebiete zurückkehren? Selbst wenn sie ihre Jobs noch haben: Wo sollen sie wohnen? Wo sich versorgen? Tausende Bewohner sitzen in Atlanta oder Houston, haben Heimweh nach ihrer Stadt, wollen nach Hause – und nichts geht voran.
Die Gründe für die Unfähigkeit, beispielsweise einen effektiven Krisenstab zu bilden, sind nicht nur in der Korruption oder dem organisatorischen Versagen lokaler Behörden zu suchen. Das System hat auf ganzer Linie versagt. Schlimmer als in einem Dritte-Welt-Land. Die Ahnung, dass der planlose Umgang mit der Katastrophe selbst seine Fortsetzung findet im Umgang mit ihren Folgen, wird inzwischen zur Gewissheit.
Nur der Katastrophen-Tourismus funktioniert. Erste Proteste gegen „Grey-Line-Tours“ werden laut, doch deren Busrundfahrten durch die reale Geisterbahn des 9th Ward sind immer ausgebucht.
Es steht zu befürchten, dass das, was von New Orleans wieder aufgebaut wird, ausschließlich für Touristen interessant sein wird. Im French Quarter will keiner mehr über „Katrina“ reden, das Geschäft läuft. Der Rest der Stadt liegt im Koma – und mit ihr die Lebensgeister, die New Orleans zu dem machten, was es war: die einzige amerikanische Stadt, die jemals genuine Kultur hervorgebracht hat.