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Archiv-Artikel

„Paris wird eine Reiche-Leute-Stadt“

Seine Bilder erzählen von dem alltäglichen Paris, dem Paris der Straße und seinem Charme. Dieses ist heute längst Nostalgie. „Die Arbeiter können die Mieten nicht mehr bezahlen und müssen in die Banlieue ziehen. An ihrer Stelle ziehen Bobos – bourgeois bohème.“ Und wer die Bilder aus den Vorstädten gesehen hat, weiß, dass dort die Tristesse herrscht. Unsere Korrespondentin hat mit Willy Ronis gesprochen und die Banlieue besucht

INTERVIEW DOROTHEA HAHN

taz: Sie sind einer der berühmtesten französischen Fotografen. Vor dem Eingang zu Ihrer Ausstellung im Pariser Rathaus stehen seit Monaten jeden Tag Warteschlangen, die Dutzende Meter lang sind. Ursprünglich wollten Sie Musiker werden.

Willy Ronis: Komponist. Das war mein eigentlicher Wunsch.

Warum hat das nicht geklappt?

Aus wirtschaftlichen Gründen. Als ich 1932 vom Militärdienst zurückkam, war mein Vater krebskrank Er hatte ein Studio am Boulevard Voltaire eröffnet. Er hat mir gesagt: „Ich habe nicht die Mittel, um einen guten Techniker anzustellen. Ich brauche dich.“ Wir waren schon in der Wirtschaftskrise. Deswegen bin ich Fotograf geworden, ohne es zu wollen. In einem Stadtteilfotogeschäft, wo Porträts gemacht wurden, die mir enorm missfielen. Als mein Vater gestorben ist, bin ich abgehauen.

Ihre Schule für die Fotografie war der Louvre.

Ja. Breughel. Die flämischen Maler.

Aber Ihre ersten Fotos haben Sie auf Demonstrationen gemacht.

Das erste veröffentlichte Bild stammt vom Nationalfeiertag, 14. Juli 1936 in Paris – im Jahr der Volksfrontregierung. Damals herrschte soziale Aufbruchstimmung. Soziale Bewegungen habe ich schon vorher fotografiert. 1934 zum Beispiel. Da ging es um bessere Lebensbedingungen. Um Löhne. Und um die Verteidigung der UdSSR.

Haben Sie die Atmosphäre von 1936 später wieder erlebt?

Ja. Schon 1938, zwei Jahre danach. Als die Bourgeoisie die sozialen Errungenschaften von 1936 wieder abschaffen wollte. Da habe ich Fotos von einem Streik bei Citroën gemacht. Rose Zehner war eine der Streikführerinnen. Das Bild von ihr auf einem Tisch, wie sie eine Rede hält, ist eines meiner bekanntesten Fotos geworden.

Nach dem Krieg haben Sie seltener Sozialreportagen gemacht. Was ist Ihr Lieblingsgenre in der Fotografie?

Die Bilder von der Straße. Vom normalen Leben. Von kleinen Leuten, die nicht in den „beaux quartiers“ leben. Ich bin selbst in so einem Quartier aufgewachsen. Am Fuße von Montmartre. Im 9. Arrondissement. Am Anfang meines Lebens war ich eher arm. Da war mein Vater Arbeiter bei einem Patron.

Sieben Jahrzehnte später ist das 9. Arrondissement heute eine ziemlich bourgeoise Gegend.

Paris wird peu à peu eine Reiche-Leute-Stadt. Die alten Quartiere, die sehr lebendig waren, sind trauriger geworden. Die Arbeiter können die Mieten nicht bezahlen und müssen in die Banlieue ziehen. An ihrer Stelle ziehen Bobos – bourgeois bohème –, junge Intellektuelle mit einem gewissen Niveau, in ihre Quartiere.

Was machte den Reiz des populären Paris für Sie aus?

Ich habe mich immer in den Milieus am wohlsten gefühlt, zu denen ich selbst dazugehörte. Ich fühlte mich in fast allen Quartieren wohl, außer in den bourgeoisen. Die fand ich zwar ästhetisch schön. Aber ich habe mich in ihnen gelangweilt. Weil es weniger Leute gab. Und weil die Leute mir fremd waren. Ich habe die Bourgeoisie erst kennen gelernt, als ich erwachsen war. Als Kind und Jugendlicher empfand ich ihre Quartiere wie Ausland.

Viele Pariser sind überzeugt, dass sie in der schönsten Stadt der Welt leben.

Ich auch. Es gibt in Paris in jedem Quartier sehr schöne Ecken. Nicht nur dort, wo die schönsten historischen Bauwerke sind. Auch in anderen Quartieren, wie Belleville-Ménilmontant.

Paris ist ganz vermutlich die meist fotografierte Stadt der Welt. Berlin hat viel weniger Porträtisten. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich kenne Berlin nur oberflächlich. Ich bin mehrfach hingefahren. Aber nichts dort hat mich wirklich gefesselt. Ich sah hier oder dort zwar ein schönes Gebäude. Aber alles ist sehr zerstreut. Berlin ist riesig. Paris ist nicht groß. Und wir haben die Seine. Die Promenaden am Ufer sind – trotz des Autoverkehrs – ein immenses Vergnügen.

Sie haben nie als Kriegskorrespondent gearbeitet. Ist das Zufall oder bewusste Entscheidung?

Nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1936 musste ich für meine Mutter und für meinen jüngeren Bruder sorgen. Und vom Charakter her bin ich kein Abenteurer. Aber wenn ich frei gewesen wäre, hätte ich mich vermutlich Capa und Chim angeschlossen und wäre nach Spanien gegangen. In den Bürgerkrieg.

Chim?

Davin Seymour. In Wirklichkeit hieß er Szimin. Das war ein polnischer Name. Und zu kompliziert für Franzosen. Wir nannten ihn Chim. Capa war auch nur ein Pseudonym. Eigentlich hieß er Friedmann. Er kam aus Ungarn. Sie waren beide jüdische Flüchtlinge.

Im Zweiten Weltkrieg waren Sie als Kommunist aus einer jüdischen Familie doppelt gefährdet. Wie haben Sie überlebt?

Als ich im Juni 1941 gesehen habe, dass die Besatzung gefährlich für mich wurde, habe ich Paris verlassen. Illegal. Ich bin in den Süden geflohen, in die Zone, die provisorisch nicht besetzt war. Dort habe ich bis zur Befreiung 1944 von kleinen Jobs gelebt. Aus Sicherheitsgründen bin ich im Süden ständig umgezogen.

Aus dieser Zeit gibt es gar keine Fotos von Ihnen.

Als ich Paris verließ, habe ich mir gesagt: Solange diese Periode dauert, mache ich keine Bilder. Ich werde das später nachholen. Falls es ein „später“ gibt. Ich wollte nicht mit Zeitungen zusammenarbeiten.

Weil es Kollaborateurszeitungen waren?

Fast alle. Es wäre gefährlich gewesen, wenn ich als Fotograf erschienen wäre. Selbst in der Presse, die nicht kollaborierte.

Wo waren Ihre Mutter und Ihr Bruder ?

Mein Bruder war in Toulouse. Auch in der vorübergehend nicht besetzten Zone. Meine Mutter ist in Paris geblieben. Sie hat den jüdischen Stern getragen. Aber sie hatte eine Concièrge, die nicht kollaboriert hat. Das hat sie gerettet.

Sie haben sich auch später als Fotograf auf Frankreich konzentriert.

Ich bin nie viel gereist. Meine Frau mochte es nicht, wenn ich länger weg war. Das hätte meine Beziehung in Gefahr gebracht.

Waren Sie immer mit einem Fotoapparat unterwegs?

Wenn ich in Paris zu einem Termin ging, habe ich mir oft gesagt: Zwischen zwei Treffen kann ich vielleicht etwas Interessantes sehen. Eines meiner meist gezeigten Fotos ist so entstanden. Die Frau, die über eine Pfütze auf der Place Vendôme springt.

War das Foto spontan?

Halb spontan. Ich sah diese Pfütze. Es war mittags. Nach dem Regen. Ich kam von einem Rendezvous an der Place Vendôme. Die Pfütze war lang und ein großer Teil der Säule der Place Vendôme spiegelte sich darin. In demselben Moment springt eine Frau darüber. Aber mein Apparat ist nicht fertig. Mist! Ich schaue nach links und ich sehe andere Frauen kommen. Da verstehe ich. Die Schneiderinnen aus den Ateliers der Haute Couture an der Place Vendôme kommen zum Mittagessen heraus. Mehrere sind über die Pfütze gesprungen. Ich habe zwei Bilder gemacht. Das hier war das beste.

Manchmal haben die Porträtierten Sie auch bemerkt. Die beiden Arbeiterinnen in der Küche zu Beispiel.

Sie haben mich gesehen. Deswegen haben sie gelacht. Manchmal ist es auch vorgekommen, dass ich ein Bild komponiert habe.

Wie sind Ihre Beziehungen zu den Leuten, die Sie fotografiert haben?

Das waren fast immer Personen auf der Straße. Ich hatte keine Beziehungen zu ihnen. Manche sind Jahre später auf mich zugekommen. Beim längsten Mal hat es 61 Jahre gedauert, bis eine Person Kontakt zu mir aufgenommen hat. Das war die Frau, die als kleines Mädchen am 14. Juli 1936 auf den Schultern ihres Vaters saß. Sie meldete sich im Jahr 1996 bei mir.

Hatten Sie nie Probleme mit Leuten, die Sie fotografiert haben?

Nur einmal. Da ging es um Geld. Zum Glück hat die Justiz verstanden, dass es Anwälte gibt, die sich darauf spezialisiert haben, Privatpersonen Klagen vorzuschlagen.

Manche Ihrer Kollegen haben trotzdem viele Klagen. Vermutlich liegt der Unterschied an Ihrer Art der Fotografie. Sie zeigen viel Respekt gegenüber den Menschen, die Sie fotografieren.

Das war ein Prinzip von mir. Ich habe nie versucht, jemanden lächerlich zu machen. Ich wollte auch niemanden zu seinem Nachteil zeigen.

Manche Bilder haben Sie erst gar nicht gezeigt.

Das Foto einer Krankenschwester und eines aus der Gefangenschaft heimgekehrten Soldaten in einer zärtlichen Umarmung auf einem Bahnsteig in Paris blieb drei Jahrzehnte lang unveröffentlicht.

Warum?

Ich wusste nicht, ob es ein reguläres Paar war. Ich habe öfter Fotos von einer Szene gemacht, die mir gefiel. Auch wenn ich wusste, dass ich sie nie veröffentlichen werde. Ich erinnere mich an einen Kuss auf der Esplanade de la Défense. Das war sehr, sehr schön. Aber als ich das Bild entwickelt hatte, habe ich mir gesagt: Ich werde dieses Bild nicht zeigen. Ich will kein Risiko eingehen. Weder für mich noch für sie.

Hatten Sie diese Scham nur gegenüber Verliebten. Oder auch in anderen Situationen?

Es gibt keine andere Situation, in der ich mir solche Fragen gestellt habe.

Vor vier Jahren – im Alter von 91 Jahren – haben Sie mit der Fotografie aufgehört.

Ich habe 73 Jahre lang fotografiert. Ich habe aufgehört, weil ich nicht mehr gehen kann. Ich brauche zwei Krücken. Meine Arterien werden härter und verstopfen. Da gibt es keine Heilung. Das Einzige, das man tun kann, um zu verzögern, ist Bewegung. Ich gehe jetzt jeden Tag mittags hier unten im Park spazieren.

Mit Ihren 95 Jahren bewegen Sie sich wie ein viel jüngerer Mann. Vorhin haben Sie sogar ein Tablett mit Kaffee quer durch die Wohnung balanciert.

Aber das ist sehr mühsam. Mit Schmerzen. Und mit körperlicher Unfähigkeit.

Machen Sie auch privat keine Fotos mehr?

Ich habe die Batterien herausgenommen. Und den Apparat in eine Schublade gelegt. Mein Labor ist jetzt ein Abstellraum.

Sie werden als Fotograf der „humanistischen Schule“ bezeichnet.Was ist „humanistisch“ in der Fotografie?

Die Menschen in der Banalität des Alltags. Ausdrucksfähig. Aber nie ein Scoop. Ich habe nie Form und Thema voneinander getrennt. Das war für mich immer eine Einheit. Eine schlecht komponierte Fotografie, selbst wenn sie etwas zeigte, das mich interessierte, blieb bei mir ein Kontaktstreifen. Und verließ mein Büro nicht. Denn ich habe eine künstlerische Ausbildung.

Wieso ist die humanistische Schule in den 60er-Jahren vorübergehend in Vergessenheit geraten?

Vielleicht wegen des Einflusses einer gewissen Sensationspresse. Der Humanismus war weniger interessant, weil man damit nicht genügend verkaufen konnte.

Welchen Beruf würden Sie heute wählen?

Ich habe mich nicht über die Fotografie zu beklagen. Wenn ich nicht gehbehindert wäre, würde ich weiter fotografieren.