: „Ich bin kein Tugendwächter“
Er ist der konservative Star des Jahres – Udo Di Fabio, Verfassungsrichter und Autor von „Die Kultur der Freiheit“. Was hat er nur am deutschen Zeitgeist zu meckern?
INTERVIEW JAN FEDDERSENUND SUSANNE LANG
taz.mag: Herr Di Fabio, Ihr Buch „Die Kultur der Freiheit“ hat Sie zum Star gemacht; es gilt als modernes Brevier für Konservative – und deshalb werden Sie von Linken verachtet …
Udo Di Fabio: Verachtung kann ich nicht sehen, Tiefschläge schon. Und ein Star? So sehe ich mich nicht. Mein Buch ist eine Intervention eines Professors, eine Anregung zur Debatte.
Paul Kirchhofs Vereinnahmung als konservativer Politstar und seinen Abschuss kommentierten Sie lapidar, dass es doch völlig klar sei, dass das passiere, wenn man das System wechsle. Vom Professor in die Politik in die Medien.
Was Paul Kirchhof angeht, heißt das nicht, dass ich jede Verzerrung seiner Ideen als Normalität des politischen Betriebes rechtfertige. Was mich angeht, beklage ich mich nicht.
Aber erstaunt es Sie?
Mein Buch und das Neuwahlverfahren waren eine Koinzidenz, die ich nicht vorhergesehen habe. Ich hatte die Veröffentlichung bewusst so angelegt, dass sie ausreichend entfernt liegt zur Bundestagswahl, die ja eigentlich 2006 hätte stattfinden sollen. Ich hätte die Nähe zur politischen Auseinandersetzung gern gemieden.
Zumal die Konservativen einen Stichwortgeber suchten – und plötzlich waren es Sie.
Nun ja …
Weshalb sind Sie zögerlich?
Den Konservativen das Herz zu wärmen, war nicht mein Anliegen. Allenfalls als ein Nebenprodukt. Gerade in letzter Zeit diskutiere ich lieber mit der anderen Seite, wenn man das so sagen darf.
Um die Linken zu ärgern?
Ich bin kein Betonkopf, der seine Weltsicht in Stein gemeißelt hat. Natürlich will ich auch mit Linken reden. Wenn man über Achtundsechzig redet, kommt man nicht umhin zu sagen, dass wir fast alle Achtundsechziger sind. Weil wir von diesem Horizont geprägt sind.
Was an Achtundsechzig hat Sie denn geprägt?
Na, die ersten politischen Bücher, die ich gelesen habe, waren von Rudi Dutschke, zum Beispiel.
Wieso lachen Sie?
Weil es vielleicht überraschend klingt. Aber 1968 waren diese Bücher eine Art Pflichtlektüre auch unter älteren Schülern, wie ich einer war.
Da waren Sie vierzehn.
Siebzehn. Ich habe mir diese Bücher in der Bücherei ausgeliehen, weil ich die Revolutionäre abends im Fernsehen gesehen habe. Junge Leute mit langen Haaren, die rhythmisch rufend durch Berlin demonstrieren, das fasziniert, und man fragt sich, worum es eigentlich geht.
Haben Sie Antworten gefunden in den Büchern, oder ging es mehr um eine Aura von Leidenschaft?
Wohl Letzteres.
Wie sehen Sie Dutschke heute?
Natürlich kritischer.
Sie lachen schon wieder!
Ich muss gestehen, ich würde mir jetzt kein abschließendes Urteil erlauben. Um ein gerechtes Urteil über ihn zu geben, müsste ich Dutschke noch einmal lesen. Deshalb bin ich zurückhaltend. Ich habe eigentlich nur das Fernsehbild vor Augen.
Das, was heute so schön das Popphänomen Dutschke genannt wird?
Ja. Eine Ikone, ein Che Guevara für das deutsche Publikum.
Nie gereizt, ihn nachzulesen?
Nein. Für mein Buch habe ich wieder viel Adorno gelesen, nach Dutschke habe ich nicht gesucht. Wahrscheinlich weil er eigentlich kein großer Theoretiker war.
Ihre erste Bundestagswahl war 1972. Wen haben Sie gewählt? Willy?
Hören Sie mal! Es gilt das Wahlgeheimnis.
Ist Ihnen die Frage unangenehm? Oder wählten Sie Rainer Barzel?
Als junger Mann habe ich, glaube ich, nicht CDU gewählt. Das wäre mir zu wenig progressiv gewesen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wen ich gewählt habe, das war für mich kein großes Ereignis. Ich hatte wohl noch ein wenig den antiparlamentarischen Affekt in mir.
Wir wollen ein paar Jahre zurückgehen, in die Anfangszeit der Bundesrepublik – die spielt in Ihrem Buch eine fast magische Rolle. Was war für Sie an den Fünfzigern golden?
Die These von den goldenen Fünfzigern ist natürlich halb Wahrheit und halb Provokation.
Das werden Sie uns erklären, bitte.
Mein Gott, was war an den Zwanzigern schon golden? Die Provokation liegt darin, dass ich es für eine Diffamierung halte, die Fünfziger als ein Jahrzehnt der Restauration zu bezeichnen. Sie sind vielmehr eine glückliche Dekade gewesen, weil Deutschland im Westen angekommen war.
Nun, weil es ja musste.
Warum auch immer. Geschichte ist immer Zwang und Freiwilligkeit. Aber die Westbindungspolitik war nicht nur politischer Pragmatik und den Machtverhältnissen geschuldet. In meiner Kindheit wurden die Amerikaner verehrt. Die geistige Öffnung zu Tocquevilles großer Demokratie steht auch als das mächtige Gegenbild zum Begriff des Zusammenbruchs. Der hat mich immer geärgert. Der Zusammenbruch war 1933, und nicht 1945.
Wie definieren Sie „den Westen“? Kulturell oder staatspolitisch?
Ich spreche von der Idee des Westens. Wenn man den Sonderweg der Deutschen bis 1945 betrachtet, dann folgte er stets einem Vorbehalt gegen das westliche Rationalisierungsprogramm: das Setzen auf individuelle Freiheit. Man hat immer gesagt, dieses westliche Programm ist zu kalt, wir haben etwas Tieferes, und deshalb Besseres.
Wir haben Seele – das Gegenteil zum Pragmatischen der angloamerikanischen Tradition …
… die misstrauisch ist, was die Erklärung der Welt allein aus Theorie angeht. Wobei ich heute allerdings eher vor zu starken Pendelausschlägen warnen würde, nicht alles aus dieser deutschen, idealistischen Tradition über Bord zu werfen, weil es Teil unserer Identität ist.
Ihr güldenes Bild hat blinde Flecken: Es gab, zum Beispiel, bis in die Sechziger extreme Vorbehalte gegen Rock ’n’ Roll – keine deutsche Radiostation hat den neuen Stoff gespielt.
Aber denken Sie nur an die deutschen Schlager, mit denen ich groß geworden bin, die hatten etwas Weltoffenes. Sie handelten von Italienreisen. Und Sänger, die einen Akzent hatten, waren besonders populär.
Sprechen Sie etwa von Caterina Valente, die vornehmlich als Italienerin genommen wurde?
Auch sie war unser Zugang zur Welt. Dieses Neugierige begann damals zu wachsen. Zum Positiven zählt für mich aber auch der Traum vom kleinbürgerlichen Glück – und ich weiß, dass auch das eine Provokation ist.
Wir gewöhnen uns an Sie.
Diesen Geist des Aufbruchs habe ich in meiner Heimat, im Ruhrgebiet, gespürt. Dass man fast alles schaffen kann, wenn man arbeitet, an sich, für sich, für andere. Ich weiß, dass die Bedingungen günstig waren, gerade auch durch Krieg und Nachkriegszeit.
Sie übertragen diese Werthaltungen auf heute, fordern sie sogar ein.
Klar ist: Wir werden die Wachstumsraten der Fünfziger, auch wenn wir exakt die gleiche Mentalität hätten, nicht erzielen.
Da müsste man ja sehr viel zerstören, um es aufbauen zu können.
Das wäre die Logik des Irrsinns. Aber der Bedarf nach Investitionen kann auch in Friedenszeiten wachsen. An den Fünfzigern interessiert mich die Lebensfreude, die zupackende Art und die Öffnung für die Welt. Ich habe eine Arbeiterkultur erlebt, in der knallhart gearbeitet wurde. Und nach Schichtende ist man trotzdem losgezogen. Nachts konnte ich manchmal kaum schlafen, so laut wurde bei uns gefeiert.
Wie sollte diese Lebensfreude denn ins Heute übertragen werden, vor allem bei einer Arbeiterschicht, die es ja nicht mehr gibt?
Na ja, es gibt sie schon noch, aber sie ist geschrumpft. Ebenso hat sich ihr kulturelles Umfeld geändert. Die Arbeiter sind in einem guten Sinne bürgerlich geworden und in der Kultur unserer Gesellschaft angekommen.
Was heißt an dieser Stelle Kultur?
Dass sich die Schichtung der Gesellschaft geändert hat. Heute hätte ich Scheu, zwischen Arbeitern und Bildungsbürgern zu unterscheiden. Wir sind durchlässiger geworden.
Proletarisiert sich nicht vielmehr das Bürgertum?
Da müsste man drüber reden, was damit gemeint sein soll. Wobei ich unter Proletariat nicht etwas Abwertendes verstehe. Aber das Wort Prolet ist im Ruhrpott nie gut angekommen. Wenn ich das in Bürgerkreisen höre, kriege ich leicht Gänsehaut.
Wird die Gesellschaft nicht immer bürgerlicher?
Im Sinne einer Nivellierung ja, aber sie ist zugleich entbürgerlicht worden. Das fängt damit an, dass viele nicht mehr kochen können oder wollen.
Können Sie kochen?
Wenn meine Frau mich lässt, mit größtem Vergnügen. Als Single, der ich zwei Jahrzehnte war, lernt man einiges, aber für sich allein zu kochen ist keine gute Motivation. Der Esstisch ist ja fast ein Auslaufmodell. Mit dem Kochen und Essen geht eine Kulturtechnik verloren.
Das sehen wir anders: Es kochen ja heute viel mehr Männer als früher.
Aber die Zahl der verkauften Fertiggerichte und der Mikrowellenherde steigt. Dass zu Hause ordentlich zu Mittag und zu Abend gegessen wird, das nimmt ab.
Manchmal erlaubt es der Job nicht.
Klar, aber die Arbeitswelt früher war auch nicht einfach. Man hat häufig keine Lust, für sich alleine zu kochen, manche setzen aber auch ihre Kinder mit Fastfood vor den Fernseher.
Wollen Sie die nachlassende Beschäftigung mit Küchendingen als Indiz für einen Werteverfall nehmen?
Nicht allein. Vielleicht erwischen Sie mich auch mal beim Fastfood, ich bin kein Tugendwächter. Es geht um den Trend dabei, dass wir das Zubereiten von Mahlzeiten und die Esskultur, die damit verbunden ist, zurzeit verlieren. Meine Position ist, dass man Werte der alten bürgerlichen Kultur dazu nutzen kann, um sie neu zu leben.
Was meint das?
Im Sinne der Originalbotschaft des Bürgertums: Menschenbild, Weltsicht, Alltagswerte. Bürgerlichkeit hat für mich als Idee nichts Negatives. Der Bürger Marx hat ja seinen eigenen Kulturraum mit dem Wissenschaftspathos des 19. Jahrhunderts ohne Not in ein schiefes Licht gerückt, davon sollten wir uns lösen. In der Pointierung kritisiere ich das an der Revolte von Achtundsechzig: dass sie das Bürgertum allzu stark desavouiert hat. Dabei war sie selbst nichts anderes als eine Revolte der Bürgerkinder.
Ein Beitrag zur beliebten Abrechnung mit Achtundsechzig?
Nein, nur sollte jetzt nüchtern bilanziert werden. Wo haben die Achtundsechziger Institutionen – Einrichtungen, von denen die freie Gesellschaft abhängt – zu Recht aufs Korn genommen und wo zu Unrecht beschädigt?
Welche denn, außer der Esskultur?
Die Familie. Den bürgerlichen Lebensstil. Die Idee des Staates.
Die Familie ist doch im Grunde vom Bundesverfassungsgericht zu Schanden geritten worden.
Ach Gott!
Mit jedem Urteil, das Frauen die gleichen Rechte einräumte. War das etwa kein Affront?
Die Rechtsgleichheit, auch zwischen den Geschlechtern, gehört zum bürgerlichen Urgestein, auch wenn die Entfaltung etwas gedauert hat. Die Ehe und die Familie sind entwicklungsoffen, und eine Rechtssprechung, die das in Einklang bringt mit dem Grundgesetz, greift nicht in die Institution der Ehe ein. Sie wird durch jene angegriffen, die behaupten, dass diese Lebensweise kleinkariert, eigentlich unerträglich ist.
Pardon, aber welcher Achtundsechziger hat das denn gesagt?
Sie können doch nicht ernsthaft bestreiten, dass die Achtundsechziger mit dem Lustprinzip angetreten sind. Bei einigen sollte die Kommune das neue Lebensmodell für alle sein, bei anderen ging es um immer mehr Befreiung von allen Bindungen.
Zerstört wurde doch nicht die Familie, sondern der Zwang, in patriarchalen Familien leben zu müssen.
Die Familie wurde lächerlich gemacht. Zerstören kann man sie nicht. Heute können wir – und das ist auch ein gutes Ergebnis der Kritik – Ehe und Familie auf der Basis von Freiheit und Selbstbestimmung, ohne die Macht von Patriarchen, neu erleben.
Aber Ihrer Meinung nach muss man Sie heute retten?
Nein. Ich plädiere für einen Gegenakzent. Die Familie ist keine Zwangsanstalt, sondern ein ursprünglicher freier Lebensraum, in dem die Welt von morgen wächst.
Die Freiheit zur Ehe ist eben auch die Freiheit, die Scheidung zu wollen oder überhaupt nicht zu heiraten.
Wer wollte das bestreiten?
Na, wir hatten gedacht, Sie?
Nein, das nun eben nicht. Wenn es Ehen gibt, wird es Scheidungen geben, selbst wenn man die bestrafen würde. Das ist mit einer Institution mitgedacht. Wenn ich vom Glück mit Kindern rede, sind Leid und Unglück ebenso mitgedacht. Es geht um die Frage: Wie sehr kämpfe ich um die Bindung – und wann gebe ich eine auf?
Jeder muss das selbst definieren.
Sicher. Wer denn sonst? Aber jede individuelle Freiheit entwirft sich in einer Matrix öffentlicher Einstellungen und Bewertungen. Was wir über Liebe, Leben und Tod denken, entsteht nicht so autark wie ein naiver Individualismus glauben machen will. Gerade im Konflikt, in der Existenzkrise klammern sich die Menschen an grundlegende Orientierungsmuster, die sie erlernt haben: Flüchten oder standhalten?
„Solange du deine Beine unter meinen Tisch stellst …“
Das habe ich in meiner Jugend auch so gehört, ja.
Würden auch Sie das Ihren Kindern sagen?
Nein. Im Konfliktfall weisen meine Frau und ich aber darauf hin, dass wir die Erziehungskompetenz haben.
Aber dann war das doch nicht das Allerschlechteste, was Achtundsechzig bewirkt hat: Die Familien sind jetzt zivilisierter.
Einverstanden. Dazu haben sie aber nur eine Chance, wenn man sie als Wert positiv bewahrt, und das ist vernachlässigt worden.
Sie versuchen einen Wind zu entfachen, der längst weht.
Vielleicht, aber noch glaube ich es nicht. Die Zahl der Kinder geht immer noch zurück, die Ehen sind noch nicht stabiler geworden.
Es gibt ja viele Familien mit sehr vielen Kindern, die nicht zu Ihren Adressaten zählen, weil sie arm sind beziehungsweise weniger gebildet.
Das ist eine böse Unterstellung. Jedes Kind ist willkommen und hat exakt die gleiche Würde. Menschen in bescheidenen Verhältnissen sind häufig klüger als Turboakademiker, und manchmal sind sie auch in ihren Moralvorstellungen weit bürgerlicher als ein zynischer Milliardär. Nur sollte Familienpolitik nicht so gemacht werden, dass nur der davon profitiert, der entweder ganz arm oder sehr reich ist.
Ihr Buch ist keines für den Harz-IV-Empfänger.
Warum eigentlich nicht? Sollten wir nicht auch einen Arbeitsuchenden ermutigen, auch das Unmögliche zu versuchen, statt in einer verwalteten Existenzform zu resignieren?
Womit denn? Seid mutig, arbeitet, auch wenn es keine Arbeit gibt?
Das Angebot an Arbeit ist keine Naturkonstante. In dem Moment, wo Menschen unbedingt arbeiten wollen, zu Opfern bereit sind, Ideen entwickeln und durch eine Infrastruktur der Bildung, Ausbildung Fähigkeiten erlangt haben, entstehen neue Möglichkeiten.
Da schwingt die Unterstellung mit, dass Menschen ohne Arbeit sich nicht wirklich bemühen.
Die Wirklichkeit hat viele Gesichter: solche der Verzweiflung, des bitteren Scheiterns, aber auch des Übermuts oder der Bequemlichkeit. Aber es geht eigentlich nicht um moralische Verurteilung, nicht der Arbeitslosen, nicht der Politiker, der Gewerkschaften oder der Unternehmer. Wir sind immer noch eine reiche Gesellschaft, aber wir müssen uns alle mehr anstrengen, um reich und chancenreich zu bleiben.
Wer ist denn jetzt wir?
Wir, die Bürger unseres Landes.
Sie haben doch Interessen – unterschiedliche – und verfolgen sie auch.
Ich betrachte eben unsere Nationalgesellschaft schon als Team, als Gemeinschaft. Da sollte man nicht sofort von Reichen und Armen reden, nicht zu schnell moralisch hohe Tonlagen anstimmen. Doch wenn wir vom Sozialstaat reden, bedarf es einer normativen Begründung, die tiefer geht als rechtliche Ordnungen wie das Grundgesetz. Sonst ist nicht einzusehen, warum man umverteilen sollte. Wir sind eine Gemeinschaft. Und als Gemeinschaft muss man auch Erfolg wollen.
Eine Voraussetzung für den Erfolg wäre nun das aufgewertete bürgerliche Familienmodell?
Ich bin der Auffassung, dass eine Gesellschaft, die auch in Zukunft das gewährleisten will, woran wir uns gewöhnt haben, nämlich ein hohes Maß an Freiheit und Wohlstand, dass sie das nur leisten wird, wenn Kinder in ausreichender Zahl zur Welt kommen und mit der Chance auf Glück groß werden.
Wie stehen Sie zum Gesetz für eingetragene homosexuelle Lebenspartnerschaften? Ist sie zu schaffen nicht ein Erfolg der Kultur der Freiheit?
Sie erwarten eine konservativ verstockte Meinung?
Wir hören zu.
Ich denke, wer sich bindet, wer Verantwortung für andere übernimmt, verdient Respekt, auch durch gesellschaftliche Anerkennung von neuen Formen des Zusammenlebens. Aber die Gleichstellung mit der traditionellen Institution Ehe halte ich nicht für angemessen. Könnte es vielleicht sein, das mit dieser Forderung nach Gleichstellung auch ein wenig der Protest der „Normalos“ herausgefordert werden sollte?
Heterosexuelle sollen also das Privileg der Ehe behalten.
Was heißt Privileg? Wenn Menschen glauben, die Ehe sei für Frau und Mann gedacht, und das tun sie mehrheitlich in unserer Kultur, dann kann sie das …
… die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe …
… ja, dann kann sie das auch provozieren. Gleichstellung ist dort wichtig, wo hinter dem Beharren auf gewachsenen kulturellen Unterschieden die heimliche Absicht lauert, den anderen nicht hineinzulassen und dadurch abzuwerten, zu diskriminieren. Aber wir sollten auch nicht des Guten zu viel tun und dem Irrtum erliegen, dass jedes gewachsene Identitätsmerkmal von Gemeinschaften per se unzulässige Ausgrenzung bedeute.
Wie dem auch sei: Finden Sie, dass es mehr klassische Ehen geben soll?
Bindungen sollte man begrüßen, das wäre eine gute Botschaft. Traditionellen Bindungsformen würde ich Priorität geben, das ist für mich eine Konzession an eine Alltagsvernunft, die manchmal auch das Bewährte dem Neuen vorzieht.
Die Homoehe könnte man doch auch, um mit Ihrem Doktorvater Niklas Luhmann zu sprechen, nicht als Kritik, sondern als Erweiterung der Bürgerlichkeit verstehen.
Ja, als eine Ergänzung, die das Ethos der traditionellen Ehe aufnimmt und auf andere Lebensformen überträgt. Ich wende mich ja auch nicht gegen neue Lebensgemeinschaften, sondern werbe für die gute alte Familie, die schon längst eine neue ist. Es geht mir um Werbung für das eine und nicht um Ausgrenzung des anderen.
Ist das die Freiheit nach Ihrem Geschmack?
Wir müssen Freiheit wollen, und zwar die der Individuen, und zugleich auch den Wert von Gemeinschaften erkennen, wenn sie mit dem Prinzip individueller Freiheit harmonieren oder gar eine Voraussetzung dafür sind. Wenn wir Freiheit nur als abstrakten Wert betonen, dann machen wir einen Fehler. Diese Position löst womöglich provozierende Gegenantworten aus, wie eben durch den Islamismus.
Dass Mann und Frau gleichberechtigt sind, steht unverhandelbar im Grundgesetz.
Das ist in der Tat zwingend für unsere Rechtsordnung, aber mir geht es um die praktischen Grundlagen eines Freiheitsprinzips.
Reicht es nicht, Verfassungspatriot zu sein – im Sinne Jürgen Habermas’?
Eine Verfassung allein? Unsere Verfassung ist ein großes Rechtsdokument. Aber Recht ist nur ein Teilsystem der Gesellschaft, die Alltagswelt ist etwas anderes. Zum Bürgerbegriff gehört auch eine bestimmte Art und Weise der Lebensführung.
Sind Sie stolz, Deutscher zu sein?
Das Wort stolz benutze ich nicht gern.
Wenigstens stolz darauf, dass dieses Land liberal geworden ist?
An Heinrich Heine angelehnt, der auch Deutscher war, aber die meiste Zeit nicht in Deutschland leben konnte: Mein Vaterland kann nur da sein, wo Freiheit ist. Wenn Deutschland nicht mehr frei wäre, dann wäre es nicht mehr mein Land
Was ist Deutschland für Sie?
Das Land bedeutet mir viel, auch weil es eine Geschichte hat, die so quälend ist, die die Seele zerreißt.
Sie lösen es, indem sie Hitler zum Nichtdeutschen machen.
Ein Volk haftet in einem historischen Sinne auch für seine Diktatoren. Hitler hat sich als Gipfelpunkt einer deutschen Geschichtslogik in Szene gesetzt. Die Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des Naziregimes oder seiner Vollstrecker wird keinen Deut geringer, wenn man darauf besteht, dass Hitler über keine einzige der Eigenschaften verfügte, die zum positiven Selbstbild der Deutschen zählen.
Was ist denn Ihr spezieller Blick?
Hitler ist gewiss nicht vom Himmel gefallen, die Deutschen hatten eine gewisse Disposition für sein Programm – und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob man diese auch heute ernsthaft erkannt hat.
Was erkennen Sie?
Den Kulturpessismus, dieses Übertriebene, Nichtpragmatische – und die unheimliche Hoffnung, man müsse nur eine einzige große Lösung suchen …
… dann wird alles besser.
Dann erkenne ich auch das Nibelungenschema, die Lust am stolzen Untergang, die Verachtung für kluges Nachgeben, für Kompromisse.
Sind Kompromisse faul?
Auch das ist typisch deutsch – dass man Kompromiss immer mit dem Wörtchen faul versieht.
Ein ew’ger Zug im deutschen Geistesstrom …
Im deutschen Idealismus, den ich sehr schätze, ging es zu häufig um tiefgründiges Weltverstehen, um das Erhabene, und viel weniger um das Naheliegende, das Gute, das Pragmatische.
Apropos: War das nicht ein tolles Jahr für Sie?
Für meinen Geschmack war es manchmal zu turbulent. Ich glaube aber, dass unsere Republik in eine interessante Diskussionsphase gekommen ist.
Mit welchem linken Intellektuellen würden Sie gern streiten?
Mit fällt gerade kein Namen ein.
Weil es sie nicht mehr gibt?
Doch, selbstverständlich, nehmen Sie Jürgen Habermas. Aber was eigentlich sind Intellektuelle? Die Alltagsvernunft wächst manchmal anderswo und im Verborgenen. Es geht hier wie dort um die Deutung der Welt, die sich der intersubjektiven Diskussion unterzieht und die Herzen und Köpfe der Menschen ergreift. Mit der neuen Deutung wird die Welt eine andere.
Das klingt verblümt – aber ist es nicht das, was Achtundsechzig war?
Ja, das hat mir die Aufbruchzeit der Achtundsechziger mitgegeben. Es lohnt sich, daran festzuhalten.
JAN FEDDERSEN, 48, taz.mag-Redakteur, und SUSANNE LANG, taz-zwei-Redakteurin, trafen ihren Gesprächspartner Anfang Dezember – zunächst im Verfassungsgericht, später beim italienischen Abendessen in Karlsruhe