: „Kultureller Pluralismus fällt uns schwer“
Der Migrationsexperte Dieter Oberndörfer beklagt die in Deutschland immer noch vorherrschende Gastarbeiter-Philosophie
taz: Herr Oberndörfer, 50 Jahre Anwerbeabkommen – ist das eine Erfolgsgeschichte?
Dieter Oberndörfer: Für die 60er-Jahre kann man diese Erfolgsgeschichte sicherlich erzählen. Der Aufbau der deutschen Wirtschaft wäre ohne die Gastarbeiter nicht so erfolgreich gewesen.
Die 60er-Jahre – das ist nicht viel an Erfolgsgeschichte. Wann setzt der Misserfolg ein?
Mit dem Anwerbestopp 1973. Mit der Mechanisierung und Digitalisierung der Industrien, durch die viele Arbeitsplätze im Bereich der manuellen Arbeit wegfielen. Und davon waren die Gastarbeiter am meisten betroffen. Auf einmal brauchte man sie nicht mehr. Daher kam damals vom Gesetzgeber der Zuwanderungsstopp. Und so haben wir bis heute keine Zuwanderungspolitik, die sich wie in klassischen Einwanderungsländern am Arbeitskräftebedarf in bestimmten Branchen und an demografischen Kriterien wie Alter und Familienstand orientiert.
Was schlagen Sie vor?
Die Sachverständigenkommission beim Innenministerium hatte beispielsweise für 2005 eine Engpasszuwanderung von 20.000 Menschen für bestimmte Wirtschaftsbranchen mit Arbeitskräftemangel vorgeschlagen. Aber was ist mit der Kommission passiert? Sie wurde im Dezember 2004 sang- und klanglos abgeschafft.
Für Zuwanderungswillige heißt das: Probiert es erst gar nicht in wirtschaftlichen Krisen oder Zeiten hoher Arbeitslosigkeit?
Ja. In Deutschland wird die Politik immer noch von der alten Gastarbeiter-Philosophie bestimmt. So wurde Ausländern vom Gesetzgeber überhaupt erst 1992 ein Anrecht auf den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft gewährt. Dies und vieles andere ist typisch für die Abwehrhaltung gegenüber Fremden, die dem Gastarbeiter-Modell zugrunde lag. Kommt, aber bitte nicht auf Dauer.
Und das ist nach 50 Jahren immer noch Realität?
Ja, immer noch. Auch im Rahmen des Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes unter Rot-Grün gibt es nur minimale Möglichkeiten des Zugangs und des Verbleibs für Zuwanderer. De facto erleben wir sogar eine Rückkehr zum klassischen Gastarbeiter-Modell.
Inwiefern?
Mit der Zuwanderungsstoppausnahmeverordnung, so heißt das tatsächlich, kann Saisonarbeitern ein Visum für 90 Tage erteilt werden. Über solche Visen gab es 350.000 Genehmigungen im Jahr 2000. Und was sind das anderes als Gastarbeiter.
Das sind, etwa in der Landwirtschaft, Ausländer, die Jobs machen, die kein Deutscher mehr machen will. Was ist so falsch daran?
Die Verlogenheit. In Spanien gab es in diesem Jahr ohne öffentlichen Protest eine Amnestie für 900.000 illegale Arbeiter, weil die Spanier sagten: Die verrichten Arbeiten, die wir Spanier nicht mehr machen wollen. Die Illegalen wurden legalisiert und erhielten eine Daueraufenthaltsgenehmigung. Und viele sind in der Sozialversicherung, was bei den Saisonarbeitern in Deutschland nicht der Fall ist. Bei uns wird konsequent verhindert, dass Menschen die Möglichkeit erhalten, auf Dauer hier zu bleiben. Das ist keine Zuwanderungspolitik. Ein schlimmes Beispiel sind dafür die Bleibemöglichkeiten ausländischer Studenten.
Wieso bei den Studenten?
Sie dürfen nach dem Examen genau ein Jahr hier bleiben, um sich einen Job zu suchen. Aber nur in ihrem Examensfach – von wegen freie Jobwahl.
Heißt: Ein Archäologe muss ausgraben oder ins Museum gehen?
So ist es. Dann gilt noch die Vorrangprüfung. Der ausländische Absolvent zieht den Kürzeren, wenn sich für den von ihm gefundenen Arbeitsplatz ein Deutscher oder ein EU-Staatsbürger bewirbt. Diese haben stets den Vorrang, selbst wenn der ausländische Absolvent besser qualifiziert ist. Also Abstammung vor Qualität. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass nach dem Zuwanderungsbegrenzungsgesetz 2004 nur 900 besonders qualifizierte Migranten nach Deutschland kommen konnten. Und das bei einem 82-Millionen-Volk.
Herr Oberndörfer, Ihren Ausführungen zufolge sind die deutschen Politiker alle ökonomische Laien.
Nicht unbedingt. Viel schwerer wiegt die kulturelle Dimension. Es gibt in Deutschland immer noch Ängste gegenüber allem Fremden. Kultureller Pluralismus fällt uns immer noch schwer. Bei der Gedenkfeier zum 11. September in New York haben ein Rabbiner, ein hinduistischer Priester sowie Vertreter des Buddhismus und des Islam mitgewirkt. Das war selbstverständlich, bei uns ist dies schwer vorstellbar. Solche Selbstverständlichkeit zu vermitteln, wäre eigentlich Aufgabe der Politiker.
Ein Altpolitiker, Helmut Schmidt, hat gesagt, die Anwerbung von Gastarbeitern war ein großer Fehler.
Das ist ökonomischer Unsinn. Die deutsche Wirtschaft hat seinerzeit die Gastarbeiter gebraucht. Aber Schmidt hat ja auch die Deutsche Nationalstiftung gegründet. Um Fremdes abzuwehren, wird in ihr darüber nachgedacht, was deutsch ist. INTERVIEW: THILO KNOTT