: Die heile Welt der Deutschen
VON EBERHARD SEIDEL
Es gibt Tage in der Geschichte einer Nation, die für Zeitgenossen in ihrer herausragenden Bedeutung sofort offensichtlich sind. Sie sind Wendepunkte, der Beginn neuer Erzählungen und tiefgreifender politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen. Der 8. Mai, das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und der Herrschaft des Nationalsozialismus, ist solch ein Datum. Oder der 3. Oktober 1990, der Tag der Einheit.
Andere Tage kommen unscheinbar daher. Nur langsam dringt in das Bewusstsein der Menschen, wie sehr sie ihr Leben verändert haben. Als Bundesarbeitsminister Anton Storch (CDU) und der italienische Außenminister Gaetano Martino am 20. Dezember 1955 in Rom das Abkommen zur Anwerbung italienischer Arbeitskräfte unterzeichneten, war dies nicht mehr als eine Nachricht unter anderen. Durch die geplante Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1956 und des beginnenden wirtschaftlichen Aufschwungs zeichneten sich personelle Engpässe in einigen Wirtschaftsbranchen ab. Nichts schien naheliegender, als vorübergehend Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuheuern.
Die SPD und Gewerkschaften protestierten angesichts einer Million Arbeitsloser gegen die Pläne und forderten: Keine Anwerbung, solange noch ein Deutscher arbeitslos ist! Nicht zu Unrecht befürchteten sie, dass mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften geschwächt werden sollte. Für die Christdemokraten hingegen galt: Gut ist, was der Wirtschaft und der Profitmaximierung dient. Sie öffneten die Grenzen für Heerscharen ungelernter und bildungsferner Schichten aus ländlichen Milieus.
Den ersten Italienern folgten bis 1973 rund 14 Millionen weitere „Gastarbeiter“ – aus Spanien, Griechenland, Portugal, Marokko, Tunesien, Jugoslawien und vor allem aus der Türkei. Es waren 14 Millionen junger, leistungsfähiger Menschen, die den Wohlstand des Landes mehrten und zu dieser Zeit kaum von den sozialen Systemen profitierten. Diese neue Unterschicht erarbeitete den gesellschaftlichen Reichtum, der Hunderttausenden von deutschen Arbeiterkindern wie Joschka Fischer und Gerhard Schröder in den Sechziger- und Siebzigerjahren den Aufstieg in die Mittelschicht erlaubte.
Die von der CDU in Gang gesetzte große Wanderung hat das Gesicht der Republik verändert: das Aussehen der Menschen und der Städte, die Schulen, die soziale Schichtung, den Speisezettel, Alltagsgewohnheiten, das religiöse Leben, die Kultur, die Sprache und die polizeiliche Kriminalstatistik. Auch wenn 11 Millionen dieser Gastarbeiter wieder in ihre Heimat zurückkehren sollten und Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), ein entschiedener Gegner der Einwanderungspolitik, in Folge der Ölkrise 1973 den Anwerbestopp verkündete, war das Land nun ein anderes. Wie tiefgreifend, zeigt ein Blick zurück.
Deutscher als 1955 war Deutschland nie. Zu keinem Zeitpunkt seit 1871, der Gründung des Deutschen Reiches, haben weniger Ausländer und Angehörige ethnischer Minderheiten in Deutschland gelebt und gearbeitet wie Mitte der Fünfzigerjahre. Weniger als 500.000 Ausländer lebten damals in der Bundesrepublik. Heute sind es 7,5 Millionen, hinzu kommen die rund 1,5 Millionen Eingebürgerten der vergangenen zehn Jahre.
Die Fünfzigerjahre waren die Verwirklichung eines alten deutschen Traums. Mit der Vernichtungs- und Vertreibungspolitik zwischen 1933 und 1945 war in Deutschland die seit der Frühromantik diskutierte und herbeigesehnte ethnische, religiöse und kulturelle Homogenität des deutschen Volkes erstmals annähernd hergestellt; bereinigt nicht nur von den ungeliebten Minderheiten der Juden, Sinti und Roma, sondern auch von nonkonformistischen Lebensstilen, frei von Milieus, die politische Gegenentwürfe oder gar alternative Lebens- und Sexualgemeinschaften zur heterosexuellen Kleinfamilie lebten.
Erst das Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955 beendete diesen bevölkerungspolitischen Wahn. Die Adenauer-Regierung hat nicht nur die Westbindung der Bundesrepublik durchgesetzt, sie hat das multikulturelle Deutschland begründet. Daran zu erinnern ist notwendig, weil viele Christdemokraten und konservative Leitartikler heute gerne die Legende vertreten: Die multikulturelle Gesellschaft und ihr angebliches Scheitern sei ein Projekt der Linken und der Grünen. Das ist historischer Unfug. Gescheitert sind vielmehr die Konservativen mit ihrer schizophrenen Politik: Über Jahre förderten sie nach Kräften die Einwanderung und behaupteten gleichzeitig, Deutschland sei kein Einwanderungsland.
Vor allem die Ära Helmut Kohl von 1982 bis 1997 gilt als migrationspolitisch verlorene Zeit. Wenig bis nichts wurde in diesen Jahren unternommen, das Einwanderungsland politisch zu gestalten. Unbeeindruckt von den Veränderungen um sie herum und bestärkt von völkischen Diskursen der Konservativen richteten sich die Deutschen stattdessen in ihren Parallelgesellschaften ein. Sie taten so, als bestünde ihre heile deutsche Welt noch immer. Mit der Weigerung der Politik, die Schulen, die Möglichkeiten politischer Partizipation, die öffentlichen Verwaltungen und das Staatsangehörigkeitsrecht den neuen Verhältnissen anzupassen, haben sie verhindert, dass Einwanderer gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft werden. Die Folge: Den Eingewanderten blieb ein sozialer Aufstieg mit wenigen Ausnahmen verwehrt. Zu einem vorsichtigen und halbherzigen Paradigmenwechsel kam es erst unter der rot-grünen Regierung mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes und der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes.
Anders als noch in den frühen Neunzigerjahren, als jährlich bis zu einer halben Million Menschen mehr ein- als abwanderten, findet heute so gut wie keine Einwanderung mehr statt. Seit 1996 liegt die jährliche durchschnittliche Nettozuwanderung in die Bundesrepublik bei gerade einmal 75.000 Menschen. Es ist eine entspannte Situation.
Aber anstatt der angebrachten Gelassenheit in der „Ausländerfrage“ herrscht erneute Aufregung. Und nähme man die Diskurse des letzten Jahres ernst, könnte man tatsächlich glauben, die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland stünde am Abgrund. Aber nicht sie ist gescheitert, sondern die soziale Integration einer Unterschicht mit geringer beruflicher Qualifikation. Der Strukturwandel der Wirtschaft mit dem einhergehenden Abbau unqualifizierter Arbeitsplätze auf Grund von Automatisierung und Standortverlagerungen seit den Achtzigerjahren trifft die Migranten bis heute mit voller Wucht. Sie sind heute, ganz so wie die Ostdeutschen, doppelt so häufig arbeitslos wie die Westdeutschen.
Bereits vor zehn, zwanzig Jahren arbeitet eine von der Globalisierung bedrohte Arbeiterschaft ihre sozialen Abstiegsängste an den Ausländern ab. Sie bescherte rechten Parteien wie den Republikanern temporäre Wahlerfolge. Seit dem Zusammenbruch der New Economy im Jahr 2002 und dem sich daran anschließenden radikalen Umbau des Sozialsystems hat diese Stimmung die Mittelschichten erreicht. Ihre Angst vor Statusverlust und ihre Orientierungslosigkeit wächst. Häufiger als noch vor fünf Jahren greift sie auf Ideologien der Ungleichheit zurück. Nicht so plump wie rechtsextrem orientierte Angehörige bildungsferner Schichten.
Der neue Rassismus der Mittelschichten ist kein völkischer, er verkleidet sich in kulturalistische und essentialistische Diskurse über Ehrenmorde, Zwangsheirat und den Islam. Getreu dem Motto: Wir, die aufgeklärten, pluralistische Deutschen und ihr, die rückständigen, antidemokratischen Troublemaker. Eine moralische Überlegenheit wird konstruiert, indem das Wilde, Barbarische, Unzivilisierte, Rückständige, Gewalttätige nach außen verlagert wird. Wachsender Antisemitismus, die Pisakatastrophe und Bildungs- und Sprachmisere, Homophobie, Gewalt in der Familie und in Beziehungen, affektive männliche Sexualität – das alles wird mit wachsender Lust auf Türken, Araber beziehungsweise die Muslime projiziert. Dabei wird Naheliegendes übersehen: Nicht Berlin-Kreuzberg leidet unter so genannten national befreiten Zonen, sondern weite Teile des Osten Deutschlands. Nicht in Berlin-Wedding stoßen gleichgeschlechtliche Lebensweisen auf die größte Ablehnung, sondern in den nahezu ausländerfreien Dörfern und Kleinstädten. Antisemitismus ist keine Erfindung muslimischer Jugendlicher, sondern nach wie vor tief in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verankert.
In den zurückliegenden fünfzig Jahren hat sich Deutschland mühsam von der Vorstellung einer ethnisch homogenen Nation verabschiedet. Nun konstruiert sie in aufgeregten Debatten eine kulturelle Identität, die im Augenblick vor allem von den muslimischen Einwanderergruppen bedroht scheint. Für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft ist das keine beruhigend Perspektive.