: Kahle und Kopp auf Kundenfang
AUS GIFHORN HEIKE HAARHOFF
Das Kontrollkommando Kahle und Kopp ist um Diskretion bemüht. Das beginnt bei der Wahl des Parkplatzes. Fünfzig Meter vom verdächtigen Haus entfernt, auf der anderen Straßenseite, parkt Heinrich Kahle seinen dunkelgrünen, tiefer gelegten Golf G3.
Zu Fuß überquert er jetzt die Fahrbahn. Das Übergewicht drückt auf sein Arthroseknie. Heinrich Kahle ist 25 Jahre alt. Ralf Kopp, sein Partner im Außendienst, „der andere James Bond“, wie Kollegen in der Arbeitsgemeinschaft (Arge) Gifhorn spötteln, folgt ihm. Er trägt Jeans und ein dunkles Sweatshirt, er ist 44 Jahre alt.
Als die beiden vor der Tür des Einfamilienhauses im Gifhorner Süden ankommen, hält Kahle seine handgroße Digitalkamera auf das Klingelschild und die beiden Namen am Briefkasten. „Eventuelles Beweismaterial“, erklärt er. Dann klingelt er. Nichts.
Kahle sagt: „Wir haben hier einen Kunden, der unter derselben Anschrift wohnt wie die Vermieterin.“ Das ist, keine Panik, in Deutschland wie im niedersächsischen Gifhorn erlaubt. Die Arge Gifhorn aber, die über die Bewilligung von Arbeitslosengeld I und II im Landkreis entscheidet, wertet es als einen Hinweis auf möglichen Missbrauch staatlicher Leistungen.
Ein gemeinsames Klingelschild, ein gemeinsamer Briefkasten gelten ihr als Indizien dafür, dass es sich bei Vermieter und Mieter nicht um geschäftliche Vertragspartner handelt. Sondern um ein unverheiratetes Paar, das das Mietverhältnis nur vortäuscht, um staatliche Gelder zu kassieren. „Wir müssen jetzt prüfen: Handelt es sich um eine abgeschlossene Wohnung?“, sagt Kopp. „Und wenn nicht: Ist es eine eheähnliche Gemeinschaft?“ Kahle klingelt erneut.
Bis vor einem Jahr waren Hausbesuche bei Arbeitslosen untersagt, per Dienstanweisung und durch die Bundesagentur für Arbeit. Dann aber wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt. Die Kosten explodierten. Im Landkreis Gifhorn beispielsweise, wo die Arbeitslosigkeit bei etwa zehn Prozent liegt, war man von 4.200 Bedarfsgemeinschaften ausgegangen; mehr als 6.000 betreut die Arge heute. Der damalige Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) fand die Schuldigen unter denjenigen, denen er helfen sollte: Bei den Leistungsempfängern müsse von zwanzig Prozent Missbrauch ausgegangen werden.
Jeder fünfte also? Die Bundesagentur für Arbeit kommentiert diese Zahl nicht. Aber sie mischt sich auch nicht mehr ein. Wie sie ihr Personal einsetzen, dürfen die örtlichen Arbeitsgemeinschaften allein entscheiden. Und auch, mit welchen Mitteln sie versuchen, die Ausgaben zu senken. „Wenn uns einer nicht reinlässt“, sagt Kahle, „dann sagen wir: Okay, das ist Ihr Recht. Aber es kann zur Folge haben, dass wir Ihnen die Leistungen kürzen.“
Da, endlich, öffnet sich die Tür. Herr A., der „Kunde“, den die Kontrolleure gesucht haben, ist Anfang 50, er sieht überrascht aus. Er hat offenbar keinen Besuch erwartet, es ist kurz vor halb elf morgens. „Kahle von der Arge Gifhorn“, sagt Kahle und streckt dem Mann seinen Dienstausweis entgegen, „mein Kollege Kopp“, er deutet auf Kopp, „und Frau Haarhoff von der Presse. Wir wollten uns mal Ihre Wohnverhältnisse ansehen. Die Presse kann doch mit reinkommen?“
Der Mann blickt schüchtern drein. Stumm macht er den Weg ins Haus frei. Schließlich findet er die Sprache wieder: „Ich wusste nicht, dass Sie heute kommen.“ Kahle grinst ihn an. „Wir kommen immer unangemeldet.“ Schon stapft er ins Haus.
Das Schlafzimmer ist im Keller. Es interessiert Kahle und Kopp besonders. Sie lassen sich alles zeigen: das französische Bett, die Unterhosen, die Socken und die Hemden im Kleiderschrank. Zufrieden stellen sie fest, dass es sich ausschließlich um Männerwäsche handelt, dass das Bett nur für eine Person bezogen ist, dass im Zimmer Fotos von Verwandten des Mieters, nicht aber von seiner Vermieterin stehen. Das entspricht ihrer Vorstellung vom Leben eines ordentlichen Untermieters. Dass Eheleute zuweilen getrennte Schlafzimmer haben und dass umgekehrt Mitglieder einer Wohngemeinschaft manchmal einen Schrank teilen oder ganz andere Dinge, ohne eine eheähnliche Gemeinschaft zu bilden, kommt in dieser Vorstellung nicht vor.
Kahle und Kopp lassen sich jetzt zeigen, in welchem Bad die Vermieterin ihre Kosmetika aufbewahrt und in welchem der „Kunde“ sein Rasierzeug. „Wie ist es mit den Lebensmitteln?“, fragt Kopp. Herr A. führt in die Küche. Und tatsächlich, es gibt zwei Kühlschränke.
„Die Scham“, sagt Ralf Kopp später im Auto, „überwinden Sie schnell. Zwei, drei Hausbesuche, dann ist das vorbei“. Seit Juli sind er und sein Kollege Heinrich Kahle im Landkreis Gifhorn unterwegs, um festzustellen, wo „beschubst“ (Kopp) oder „beschissen“ (Kahle) wird, auf Vollzeitstellen und an fünf Tagen die Woche, meist jeder für sich, bei heiklen Fällen zu zweit. Mal geht es um eheähnliche Gemeinschaften, mal um Erwerbstätigkeit oder Schwarzarbeit, mal um den Bedarf an Waschmaschinen und Babykleidung. Oder einfach darum, den Aufenthaltsort eines Arbeitslosen zu ermitteln. Im Schnitt schaffen sie ein gutes Dutzend Fälle pro Tag.
Die Adressen bekommen sie von Sachbearbeitern, denen die Anträge widersprüchlich erscheinen, sie erhalten sie von Menschen, die ihre Nachbarn denunzieren, oder durch eigene Beobachtung. „Gifhorn ist ein Dorf“, sagt Ralf Kopp. 45.000 Menschen leben hier, man kennt sich. Frau B., die Arbeitslosengeld II bezieht, trafen die Fahnder neulich in einer Boutique wieder – zu ihrem Erstaunen wurden sie von ihr bedient. Seither fahren sie täglich im Schritttempo an dem Geschäft vorbei und notieren eifrig, wann die Frau sich augenscheinlich wieder etwas hinzuverdient. Ihr drohen nun Leistungskürzung und eine Anzeige wegen Betrugs. Kopp sagt: „Das ist schließlich kein Kavaliersdelikt.“
Vielleicht muss man so reden, wenn man sein Geld damit verdient, arme Schlucker der Illegalität zu überführen, Menschen, die mit ihrer Arbeit oft auch ihre soziale Achtung verloren haben und nun mit 345 Euro monatlich herumkrepeln. Vielleicht muss man so urteilen, wenn die eigenen Erfolge dürftig sind.
Die Arbeit erfordert Geduld. Bei Herrn C., der im Verdacht steht, Arbeitslosengeld II zu beziehen, obwohl seine angebliche Lebensgefährtin ihn unterhalten könnte, macht keiner auf. „Wir sind schon zum dritten Mal da“, seufzt Kahle. Zum dritten Mal werden sie unverrichteter Dinge wegfahren. Denn was sollen sie denn machen? Den nächsten Besuch auf dem Anrufbeantworter ankündigen? Das Überraschungsmoment wäre weg. Herr C. könnte die Wohnung präparieren. „Glaube nichts und traue niemand“ steht an der Wand über Kahles Schreibtisch. Es ist das Arbeits- und Lebensmotto des 25-Jährigen. Er wird ein viertes Mal unangekündigt wiederkommen.
Man darf jetzt nicht zu viel Mitleid haben. Kahle und Kopp haben ihre Stellen freiwillig angenommen, und ihr Chef sagt stolz, dass sich die beiden schon jetzt rechnen nach nur einem halben Jahr, auch wenn er keine Zahlen nennen könne. Heinrich Kahle, der mal bei einem Autohändler Bürokaufmann gelernt hat und sich zuletzt in der Telefonzentrale eines Altenheims durch die ereignisarmen Nachtdienste gähnte, zappte sich eines Abends durch die Fernsehprogramme und blieb bei einer Reportage über den Missbrauch sozialer Leistungen hängen. „Die Leute bescheißen bis zum Abwinken“, erfuhr er dort und beschloss: „Da willste was machen.“
Als die Arge Gifhorn die Stelle im Außendienst im Angestelltenverhältnis ausschrieb, bewarb er sich sofort. Ralf Kopp wurde sein Kollege, weil er zurück in seine Heimatstadt Gifhorn wollte. Zuvor hatte der Beamte im benachbarten Helmstedt Arbeitslosengeldanträge am Schreibtisch überprüft. „Wir“, sagt Kopp, „bessern das Image der Arbeitslosen auf, indem wir die Betrüger herausfiltern.“ So kann man das sehen.
Frau D. aus der Neubausiedlung traut die Arge zu, sie habe den Elektroherd, den Fernseher und die Couchgarnitur eventuell gar nicht für sich selbst beantragt. Kahle und Kopp fahren vor. Aber Frau D. ist nicht zu Hause. Ebenso wenig Herr E., der ein paar Häuser weiter um eine Renovierung gebeten hat. „Seine Zeitung steckt noch im Briefkasten“, stellt Kahle fest. Er blickt auf die Uhr. 11.20. Die Missbilligung ist ihm anzumerken. Entweder man ist aus dem Haus um diese Zeit, findet er. Dann kann man aber auch den Briefkasten geleert haben. Oder man ist Langschläfer und daheim. Warum öffnet man dann nicht?
„Unser größtes Problem ist, die Leute anzutreffen“, sagt Kahle. An manchen Tagen ist es zum Verzweifeln. „Dabei sieht man uns nicht an, wer wir sind.“ Das stimmt. Wenn man Heinrich Kahle frühmorgens bei der Routenplanung im Büro zuguckt, wie er dasitzt, die Haare nach hinten gegelt, und auf die langmähnige Brünette starrt, die im Vierfüßlerstand an einem imaginären Strand auf seinem Bildschirmschoner auf ihn wartet, dann kann man sich auch andere Tätigkeiten für ihn vorstellen.
In einer Reihenhaussiedlung haben Kopp und Kahle Erfolg. Herr F. macht auf. Er ist Anfang 20 und seit ein paar Monaten arbeitslos. Seitdem wohnt er zur Miete bei seinen Eltern. Kopp und Kahle aber vermuten, dass es sich gar nicht um eine eigenständige Wohnung handelt, sondern um ein, zwei Zimmer. Dann wären die Mietkosten, die die Arge übernehmen soll, nicht gerechtfertigt. Dem Mann sagen sie: „Wir möchten uns mal Ihre Wohnverhältnisse angucken.“
Herr F. führt sie ahnungslos durchs Haus. Kahle und Kopp zwinkern sich zu. Treffer. Der junge Mann hat zwar zwei Zimmer für sich, Bad und Küche aber teilt er mit den Eltern. Kahle und Kopp registrieren den wertvollen Fernseher in seinem Zimmer und fragen freundlich, ob der junge Mann die Mahlzeiten auch mal mit den Eltern einnimmt. „Ja, klar“, antwortet der Arbeitslose. Er weiß nicht, dass ihm daraus später ein Strick gedreht werden kann.
Erstens: Wieso behauptet er, es handele sich um eine abgeschlossene Wohnung? Zweitens: Woher hat er das Geld für einen so teuren Fernseher? Drittens: Wie viel staatlichen Unterhalt braucht er, wenn doch Mama für ihn kocht? Kahle und Kopp verabschieden sich: „Alles klar, Herr F.!“
Ein Schotterweg am Stadtrand ist ihr nächstes Ziel. In der Einfahrt kläfft eine Jagdhündin. Sie hält ihr Rudel Welpen zusammen. In dem Bauernhaus dahinter soll Frau G. in eheähnlicher Gemeinschaft mit ihrem Vermieter leben. Gifhorn muss ein Nest solcher Vermieter-Mieter-Beziehungen sein.
Kopp und Kahle suchen die Haustür. Die Hündin bellt. „Keine Sorge“, ruft Kahle, „ich hatte 21 Jahre einen Dackel.“ Unbeirrt laufen die beiden weiter. Die Hündin verfolgt sie, knurrend und mit eingezogenem Schwanz. „Weiter“, drängt Kahle. Sie nähern sich den Welpen. Da schnappt die Hündin nach Kopps Hosenbein. „Also wirklich!“ Kahle holt zum Schlag mit seiner Dokumentenmappe aus. „Das gibt einen Vermerk ans Veterinäramt“, droht er. Die beiden flüchten sich ins Auto. Der Besuch wird auf Wiedervorlage gesetzt.