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Archiv-Artikel

Die Juden als Weltfeinde

Was ist neu am Neuen Antisemitismus, etwa des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad?Unter Forschern ist eine Debatte darüber entbrannt, wie tief der Judenhass im Koran selbst gründet

VON PHILIPP GESSLER

Synagogen und jüdische Schulen in Flammen, verbale und physische Attacken auf Juden – vor gut dreieinhalb Jahren rieben sich nicht nur Juden in ganz Europa teils verwundert, teils verängstigt die Augen. Eine antisemitische Welle schwappte über fast alle westeuropäischen Staaten. Auf ihrem Höhepunkt 2002 registrierte etwa die Polizei in Frankreich zwanzigmal mehr judenfeindliche Taten als drei Jahre zuvor. Israels Premier Ariel Scharon warf den Europäern „kollektiven Antisemitismus“ vor. Das Schlagwort vom „Neuen Antisemitismus“ kam auf. Ratlosigkeit herrschte, wie dem Phänomen zu begegnen sei. Nicht einmal die Definition des Antisemitismus war Konsens, auch nicht in der Wissenschaft. Daran krankte noch im April vergangenen Jahres die Berliner Antisemitismus-Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Inzwischen hat sich die Lage zumindest äußerlich etwas beruhigt. Die „Zweite Intifada“, die nach Ansicht der meisten Experten den europäischen Antisemitismus angeheizt hatte, ist weitgehend versiegt. Zwar ist die Zahl der antisemitisch motivierten physischen Attacken gegen Juden in Deutschland seit 2001 stetig gestiegen und hat sich mittlerweile verdoppelt. In Frankreich dagegen scheint der Höhepunkt der Anschläge, europaweit nach Recherchen von Experten vor allem von muslimischen Migranten verübt, überwunden – ihre Zahl sank in der ersten Hälfte dieses Jahres. Weiterhin offen aber sind zwei wichtige Fragen, denen sich jüngst zwei Konferenzen in Berlin widmeten. Wie eng sind Antisemitismus und der radikale Islamismus verflochten? Das erkundete eine Tagung des Zentrums für Antisemitismusforschung. Was ist dran am Schlagwort vom „Neuen Antisemitismus“? Das fragte das Bundesamt für Verfassungsschutz.

Ein Ergebnis der Tagungen: Mag die Definition von Antisemitismus immer noch nicht endgültig geklärt sein – man hält sich zumindest nicht mehr länger unfruchtbar mit Definitionsstreitigkeiten auf. Selbst die eher absurde Definition des Göttinger Politologen Bassam Tibi, das Ziel des Antisemitismus sei das Töten von Juden, während Judenhass nur Harmloseres wolle, konnte niemanden mehr richtig aufregen. Auch nicht Tibis lapidare Aussage, Antisemitismus sei dem Islam „wesensfremd“.

Seltsam nur, dass in den vergangenen Jahren vor allem Muslime öffentlich dazu aufriefen, Juden oder „Zionisten“ zu töten oder Israel von der Landkarte zu tilgen, wie es Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad immer wieder tut, jüngst noch geschmückt mit der abstrusen Idee einer Verlegung des „Krebsgeschwürs“ Israel nach Europa. Klar, das sind radikale Islamisten oder „Dschihadisten“, wie etwa Ussama Bin Laden, dessen Reden nur so von Hass auf „Juden“/„Zionisten“ strotzen. Die Frage aber bleibt, wie tief Judenhass im Koran selbst gründet. Reicht die schlichte Erklärung, die nicht wenigen judenfeindlichen Koranstellen würden von radikalen Islamisten nur missbraucht?

Tatsache ist: Den Juden ging es generell im muslimisch-arabischen Raum über Jahrhunderte besser als im christlichen Europa. Als Mitglieder einer Buchreligion genossen sie Achtung, jedoch selten die gleichen Rechte wie die Muslime. Als auch „der moderne Rassen-Antisemitismus“ die arabische Welt erreichte – vor allem seit der Kolonialisierung des arabischen Raums durch die europäischen Mächte Ende des 19. Jahrhunderts –, fiel er gleichwohl auf fruchtbar-bösen Boden, eben auf den der judenfeindlichen Stellen in den Schriften des Propheten. Diese Passagen (etwa Sure 4, Vers 155, 2,100 oder 4,161) sind aus den Umständen ihres Entstehens heraus erklärbar und werden kontrastiert durch positivere Darstellungen der Juden im Koran. Doch Gleiches gilt auch für das Neue Testament – das Ende ist bekannt.

Der Politologe Götz Nordbruch warnte jedenfalls davor, allzu schnell eine klare Linie zwischen Antisemitismus und Islamismus zu ziehen, auch wenn die faschistische Idee aus Italien und Deutschland in den Dreißigerjahren im arabisch-muslimischen Raum populär war. Es gab keine zwangsläufige Kooperation zwischen dem Nationalsozialismus und dem ursprünglich säkularen arabischen Nationalismus, der immer wieder eine ideologische und personelle Nähe zum Islamismus aufwies. Wie einflussreich aber war etwa der Antisemitismus des früheren Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini? Der Geistliche, ein Pate der palästinensischen Nationalbewegung, lebte von Hitlers Geld, führte eine bosnische SS-Einheit und fand im Nazi-Berlin Exil. Unklar aber ist sein Einfluss auf den heutigen Judenhass unter Islamisten.

Der Düsseldorfer Islamwissenschaftler Michael Kiefer betonte denn auch, dass es im Islam keinen tief verwurzelten Antisemitismus gebe – der sei erst mit dem Kolonialismus aufgekommen. Die Islamisten hätten ihre ursprünglich vor allem politische Ideologie erst nach dem „Schock“ des israelisch-ägyptischen Friedensschlusses von Camp David sowie nach der islamischen Revolution im Iran, beides 1979, mit den judenfeindlichen Stellen des Koran angereichert. Der heutige Antisemitismus in der arabischen Welt sei weiterhin ein ursprünglich europäisches, dorthin exportiertes Phänomen. So solle man auch nicht von einem „muslimischen Antisemitismus“ sprechen, sondern von einem „islamisierten Antisemitismus“; worauf ein Zweifler auf der „Islamismus“-Tagung spitz fragte, ob man denn dann auch statt von einem „katholischen Antisemitismus“ eher von einem „katholisierten Antisemitismus“ reden müsse.

Unstrittig jedenfalls ist, dass sich der islamistische oder islamisierte Antisemitismus in der arabischen Welt weit verbreitet hat und über Internet oder Satellitenfernsehen auch in den europäischen Migrantengemeinden virulent wird. Wie Didier Lapeyronnie (Bordeaux), Hadassa Hirschfeld (Den Haag) und Mikael Tossavainen (Lund) in ihren Vorträgen jeweils aufzeigten, ist Antisemitismus oder zumindest das Spielen mit antisemitischen Stereotypen mittlerweile in solchen Milieus so normal, dass „Jude“ sowohl in Frankreich wie in den Niederlanden als auch in Schweden ein ganz normales und angeblich gar nicht so bös gemeintes Schimpfwort vor allem der Jugendsprache geworden ist. In manchen Berliner Schulen ist dies übrigens nicht anders.

Fatal auch, dass sich in der arabischen Welt ein Opfer- und Minderwertigkeitsdiskurs breit gemacht hat, bei dem sich antiwestliche, antiamerikanische, antisemitische, antizionistische und antiisraelische Verschwörungstheorien wild mischen, und zwar nicht nur bei Islamisten, wie Jochen Müller vom Memri-Institut in Berlin aufzeigte. Er zitierte zum Beleg eine Aussage der ägyptischen Frauen-/Menschenrechtlerin Nawal al-Saadawi, eine stets bedrohte Kämpferin gegen Islamisten, die gleichwohl sagt: „Die arabischen Despoten standen immer im Auftrag des amerikanischen und israelischen Kolonialismus.“ Als Folge von Camp David und des Kuwaitkrieges „mussten wir zusehen, wie unsere Regierungen die Amerikaner in der Palästinafrage förmlich anbettelten, sich einzumischen. Bei Gott, was könnte beschämender für unsere Völker sein.“

An dieser Stelle taucht das auf, was neu am heutigen Antisemitismus genannt werden kann, ohne dass man dies „Neuer Antisemitismus“ nennen muss: Es ist, vor allem seit den Anschlägen vom 11. 9. 2001, eine ideologische Angleichung des Judenhasses über ursprünglich weit entfernte Ideologien und Milieus hinweg, wie der Antisemitismus-Experte Klaus Holz erklärte. Im Kern ist es ein antisemitischer Antizionismus, auf den sich radikale Islamisten, Neonazis und zum Teil auch Linksextremisten einigen können. Sie alle sehen die Welt und sich selbst als Opfer einer irgendwie gearteten jüdisch-zionistisch-kapitalistischen Verschwörung in Politik, Wirtschaft und Medien, die sich stark mit antiamerikanischen, globalisierungskritischen und antimodernen Ideen mischt. „Die Juden“ werden dabei als die treibenden Kräfte hinter den Kulissen imaginiert, die zusammen mit der US-Regierung und Israel eine Weltherrschaft etablieren möchten, die die Völker zerstört.

Hinzu kommt, wie jüngst bei Ahmadinedschad, eine Ideologie, die Auschwitz leugnet, relativiert oder als angebliches Mittel zur Installation des jüdischen Staates Israel interpretiert. Das ist alles hirnrissig – so auch die Begründung des Terror-Großmeisters Abu Mussab al-Sarkawi für seine Anschläge gegen Schiiten im Irak: Hinter diesen muslimischen Brüdern stünden eigentlich die Juden. Mit Logik hat das, wie bei allen Verschwörungstheorien, nichts zu tun. Dennoch kann Holz bilanzieren: „Im Antisemitismus der Gegenwart treffen sich Muslime und Christen, Araber und Europäer der unterschiedlichsten politischen Couleur.“

Tatsächlich liegt die diabolische Stärke und zukünftige Gefahr dieses antisemitischen Konstrukts darin, dass es weitgehend transnational, transethnisch und transreligiös funktionabel ist und eine komplette Welterklärung liefert, bei der die „Juden“ als Weltfeinde und perfekte Sündenböcke für alles herhalten müssen. In einem sind sich die Experten weitgehend einig: Bisher gibt es auf dieser gemeinsamen ideologischen Grundlage der Antisemiten weltweit kaum Kooperation, ein wenig Internet-Austausch und nur gelegentliche Treffen – die weltanschaulichen Gräben zwischen den antisemitischen Gruppen sind da noch zu tief. Die Gefahr aber besteht, dass sich diese „moderne“ oder „neue“ antisemitische Wahnidee als verlockend erweisen könnte, da sie die Grenzen zwischen Ost und West, Orient und Okzident zu überwinden vermag. Gut möglich, dass der Antisemitismus als Weltanschauung vor einem neuen, bösen Frühling steht.

Philipp Gessler, taz-Redakteur, ist Autor des Buches „Der neue Antisemitismus“, Herder-Verlag