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Archiv-Artikel

„Es ist keine Frage der Kultur“

Die jungen Franzosen aus den Vorstädten sind auf die Barrikaden gegangen, weil sie sich ohne Arbeit und Perspektive ihrer Würde beraubt sehen. Das muss sich dringend ändern. Mit dem Islam haben diese Unruhen nichts zu tun

taz: Ist die Integration à la française gescheitert?

Dounia Bouzar: Im Gegenteil. Die Jungen glauben an die republikanische Devise: Egalité, Fraternité, Liberté. Sie sind durchgedreht, weil sie den Widerspruch erleben, das Leute mit dunklerer Hautfarbe, die aus bestimmten Quartieren kommen, diskriminiert werden. Und dieser Widerspruch zwischen Werten und Wirklichkeit ist brutal.

Was wollen die Jungen erreichen?

Das Fernsehen zeigt ihnen ein Bild von dem Franzosen, der ein Haus und ein Schwimmbad hat und das neueste BMW-Modell. Sie wollen reich werden ohne Anstrengung. Sie haben keine Ahnung davon, dass ein Arbeiterkind nicht sofort Minister wird. Selbst als der soziale Aufzug noch funktionierte, dauerte das mehrere Generationen.

Es gibt tatsächlich massive Diskriminierungen. Das erkennt jetzt sogar der Staatspräsident an.

Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Erstmals in der Geschichte gibt Frankreich zu, dass es Diskriminierungen gibt. Kurz vor Beginn der Unruhen wurde auch ein Minister für die Chancengleichheit ernannt.

Das kommt jetzt aber ziemlich spät.

Sicher, es hätte vor 20 Jahren geschehen müssen. Damals gab es Aufstände in Lyon. Kein Vergleich mit heute. Nur eine Handvoll Autos brannte und die Jugendlichen waren viel politisierter.

Solche Proteste werden gern mit dem Einwanderungshintergrund in Verbindung gebracht.

Das ist Teil des Problems: Entweder werden die Jugendlichen auf die ethnische oder kulturelle Herkunft reduziert, wie in den 80er-Jahren, oder auf ihre religiöse Herkunft, wie heute. Dabei haben jene, die jetzt randaliert haben, nicht das Geringste mit Religion zu tun. Es sind einfach Jugendliche, die ohne Kultur aufgewachsen sind. Denn es gibt keine Kultur, zu deren Werten es gehört, Autos anzuzünden. Die, die Autos verbrannt haben, stammen mehrheitlich aus Familien, die seit drei oder vier Generationen hier sind. Nur wenige waren Kleinkriminelle. Aber wir haben in der Tat ein riesiges Problem. Nie zuvor haben Kinder in Frankreich ihre Schulen angezündet.

Was sind die Ursachen für den Gewaltausbruch?

Einerseits die Diskriminierungen, die den Hass fördern – auch gegen den Staat. Und Innenminister Nicolas Sarkozy, der provoziert hat. Er wusste, wie viel Hass es gibt. Trotzdem hat er immer wieder von „Gesindel“ geredet. Er wollte den Wählern der Rechtsextremen zeigen, dass er dasselbe kann wie die Rechtsextremen. Das ist in Frankreich nicht neu.

Aber warum passiert es in Frankreich und nicht in Großbritannien oder den Niederlanden – ebenfalls Länder mit relativ frischer kolonialer Vergangenheit und ungemütlichen Vorstädten?

In Frankreich sind Würde und sozialer Status stark mit der Arbeit verknüpft. Wenn man keine Arbeit mehr hat, ist man nichts mehr. Anderswo haben die Migranten noch die Verbindung zu ihrer Herkunft. In Frankreich wird die Geschichte der Migranten verleugnet.

Warum haben wir während der Gewaltausbrüche fast nichts von den Mädchen in den Vorstädten gehört?

Für die meisten Mädchen hat die republikanische Devise einen Sinn. Sie wissen, dass sie die Zugehörigkeit als Citoyenne und die Alphabetisierung in den Dörfern ihrer Vorfahren nicht bekommen hätten. Sie werden viel weniger diskriminiert als die Jungen. Und sie haben auch nicht das Stigma des Arabers als Delinquent oder Terrorist.

Die Arbeitslosenzahl bei den jungen Mädchen ist aber fast ebenso hoch wie bei den Jungen. An manchen Orten sogar etwas höher.

Sie dürfen nicht vergessen, dass die Würde der Jungen auf der Arbeit basiert. Natürlich leiden auch die Mädchen – wie viele in Frankreich – unter der wirtschaftlichen Krise. Aber sie können auch anders eine Würde finden. Da spielt wieder die Beziehung zur Geschichte eine Rolle. Wenn der Vater weggeht, um im Land des ehemaligen Kolonisators zu arbeiten, und dann arbeitslos wird, hat das nicht nur wirtschaftliche Folgen. Es stellt den Platz des Vaters in der Familie und den Sinn des Aufenthaltes der ganzen Familie in Frankreich in Frage. An diesem Punkt wäre es hilfreich, wenn es eine gemeinsame Geschichte geben würde.

Warum?

Weil der Mangel an gemeinsamer Geschichte von Einwanderern und Franzosen zu dem führt, was wir heute erleben. In Frankreich wird es schwer werden, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben. Einerseits hat die „Republik der Menschenrechte“ kolonisiert, um die Wilden zu „zivilisieren“. Und andererseits müssen die Kinder der Eingewanderten lernen, dass die Bösen nicht nur die Weißen waren. Sie müssen entdecken, dass es arabische Kollaborateure gab, ohne die die Kolonisierung gar nicht möglich gewesen wäre. Die Geschichte ist viel komplizierter, als ganz weiß und ganz schwarz.

Sie waren Mitglied im Französischen Muslimrat (CFCM). Warum sind die ausgetreten?

Weil Nicolas Sarkozy im CFCM politische und religiöse Funktionen vermischt hat. Ich bin in Frankreich geboren. Ich bin komplett in der französischen Laizität. Und das bedeutet unter anderem, dass die Trennung zwischen Religion und Politik strikt sein muss.

Wo vermischt Innenminister Sarkozy denn Religion und Politik?

Er sagt: Wir bauen Moscheen, um den Leuten Hoffnung zu geben. Tatsächlich aber bauen wir Moscheen, weil das in dem Gesetz von 1905 vorgesehen ist. Dieses Gesetz über die Trennung von Staat und Religion garantiert, dass die Leute Orte zum Beten haben: die Christen, die Juden und die Muslime. Dafür, den Leuten Hoffnung zu geben, ist die Politik da. Die muss Arbeitsplätze schaffen.

Sie sind selbst religiös.

Ich bin praktizierende Muslimin. Aber ich bin auch eine Intellektuelle. Und das Produkt meiner Familiengeschichte. Und meiner Studien. Und meines Quartiers. Ich bin all das. Das Individuum lässt sich nicht auf einen einzelnen Aspekt seiner Identität reduzieren.

Manche Politiker wollen mithilfe von muslimischen Religiösen für Ruhe in der Banlieue sorgen. Ist das klug?

Nein, das ist dramatisch. Nicht nur Politiker von rechts, sondern auch von links versuchen das. Sie machen die Religiösen zu offiziellen Ansprechpartnern der gewählten Politiker. Natürlich bin ich einverstanden, dass nicht nur der Priester, sondern auch der muslimische Geistliche zum sozialen Frieden beiträgt. Aber man kann den sozialen Frieden nicht darauf aufbauen.

Können Religiöse nicht für sozialen Frieden sorgen?

Wenn sie das tun, führt es zu einer Abkoppelung von der Realität. Die Religion wird keine Quelle, sondern eine schützende Blase. Sie löst nicht Nachdenken, sondern Regression aus. Das ist in allen Religionen so. Es muss eine vielfache Partnerschaft geben. Mit laizistischen Gesprächspartnern und mit anderen.

Was muss konkret geschehen?

Wir müssen Brücken bauen, damit die Jungen nützlich für die Gesellschaft werden können. Denn es ist schwierig, einen Jungen zu sozialisieren, dem man morgens sagen muss: „Steh auf, es gibt nichts zu tun“. Die Jungen müssen wissen, dass die Gesellschaft sie braucht.

INTERVIEW: DOROTHEA HAHN