: Der ganze „Dadaglobe“
Die große Dada-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou ist eine fette, mehrsprachige Enzyklopädie einer der radikalsten und vor allem expansivsten Avantgardebewegungen des letzten Jahrhunderts
von ESTHER BUSS
Im Jahr 1921 planten einige Dadaisten, allen voran Tristan Tzara, eine Art Dada-Atlas. „Dadaglobe“ sollte er heißen und alles versammeln, was seit der mythologischen „Stunde null“ der Dada-Bewegung passiert war, also seitdem Hugo Ball 1916, in kubistische Papprollen gekleidet, die Bühne des „Cabaret Voltaire“ in Zürich betreten und dort ein Lautgedicht verlesen hatte, in dem es hieß: „jolifandro bambla o falli bambla“. Zwar gab es 1920 durchaus Richard Huelsenbecks Textsammlung des „Dada Almanach“, doch aus der allumfassenden Anthologie ist leider nichts geworden. Jetzt, mehr als achtzig Jahre später, ist im Pariser Centre Pompidou eine Dada-Ausstellung zu sehen, der man gerne ehrenhalber den Titel „Dadaglobe“ geben würde. Sie funktioniert wie eine fette, mehrsprachige Enzyklopädie, ist aber noch viel mehr als eine sehr gründliche und umfangreiche Ausstellung zu einer der radikalsten Avantgardebewegungen des letzten Jahrhunderts. In ihrer Fülle ist sie derart verschwenderisch und platzt dermaßen aus allen Nähten, dass es fast schon überspannt wirkt. So wird man in das historische Material hineingeworfen wie in einen Erlebnispark – allerdings ohne den populistischen Geschmack dieses Vergnügens. Dabei ist der Aufbau der Ausstellung mehr als sachlich. Über vierzig Ausstellungskojen, nach Themen, Städten oder Namen geordnet und nach allen Seiten hin offen, reihen sich aneinander und erinnern an die dumpfe und stickige Atmosphäre von Kunstmessen oder an historische Vorläufer wie die Megaschau „von hier aus“ anno 1984. Eigentlich müsste man jetzt gleich wahnsinnig müde werden. Aber genau das Gegenteil passiert.
Über zweitausend Exponate – Objekte, Malereien, Zeichnungen, Collagen, Fotografien, Assemblagen, Reliefs, Skulpturen und Schriftstücke wie Zeitschriften, Bücher, Plakate und Presseartikel sowie verschiedenartigste Zettelwirtschaften begegnen einem auf nicht vorgegebenen Wegen. Das Hauptmotiv der Ausstellung heißt Ausdehnung. Denn gezeigt wird, dass Dada sowohl geografisch als auch medienspezifisch expansiv und auf Entgrenzung ausgerichtet war. Außerdem war es eine äußerst kreative Form der Negation, aus der Überproduktion und neue „Erfindungen“ hervorgingen. Dabei kam Dada weder vom Mars noch aus dem Nichts, sondern war ein „melting pot“ der europäischen Avantgarden des Kubismus, Futurismus, Expressionismus. Auch dadaistische Gesten gab es ja schon vorher – etwa Duchamps legendäres Ready-made „Roue de Bicyclette“ (1913), das jetzt im Centre Pompidou zu sehen ist.
Entscheidender Motor für die Formierung von Dada war jedoch der Irrsinn des Ersten Weltkriegs, der zum Zeitpunkt 1916 längst zu einer Materialschlacht eskaliert war. Der künstlerisch-politische Protest war das Nein und das Nichts, das in zahlreichen Äußerungen unaufhörlich beschworen wurde. Dieses Nichts war natürlich alles andere als Nichts, sondern ein Spiel mit Paradoxien und gezielter Unlogik. Trotz der mitunter aggressiven Dekonstruktion von Sinn und Bedeutung war die dadaistische Negation nicht wirklich destruktiv. Dada funktionierte schon bald wie ein Label. Die ProtagonistInnen dieser Bewegung bildeten eine Art Wanderzirkus, der nach dem Krieg auf Tournee ging und in anderen Ländern und Städten seine Ableger pflanzte, sich durch Briefe, Manifeste, Zeitungsmeldungen und Annoncen verbreitete – eine eher sanfte Form des Medienspektakels. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen in den dadaistischen Zentren Zürich, Berlin, Paris und New York sowie Köln und Hannover brachten jeweils sehr eigene, ortsspezifische Ausprägungen hervor.
Hat man in der Pariser Ausstellung die „Städte-Räume“ einmal hinter sich gelassen, fühlt man sich schon zu Hause im Dadaglobe. Während sich Zürich- Dada durch nihilistisch-absurde Gesten auszeichnete, die häufig nah an Jux und Dollerei lagen, trugen die dadaistischen Aktivitäten in Berlin einen deutlich sozialkritisch-satirischen Ausdruck. Davon zeugen vor allem die Bild-Text-Montagen von George Grosz, John Heartfield und Hannah Höch – Zeichnungen, in die Zeitungs- und Zeitschriftenfotos, Anzeigen und Reklameslogans einbezogen wurden. Die Berliner Dadaisten veranstalteten 1920 mit der „Ersten Internationalen Dada-Messe“ schließlich auch die umfassendste Ausstellung seinerzeit. Hier ist sie in Form eines original nachgestellten Raums präsentiert, von dessen Decke der „Preußische Erzengel“ hängt, eine ausgestopfte Offiziersuniform mit Schweinekopf.
Wenn Man Ray in den Siebzigerjahren rückblickend über New York Dada sagte: „So etwas gab es nicht, ich würde davon ganz und gar abraten“, lässt sich das wohl als postdadaistischer Witz verstehen. Vor allem um Alfred Stieglitz’ Galerie „291“ konzentrierten sich dadaistische Aktivitäten – wenn auch weniger kollektiv organisiert. In Paris dagegen war Dada eine vorwiegend literarische Bewegung und sollte schon bald unter dem strikten Regime von André Breton vom Surrealismus abgelöst werden. Was es noch alles gab: Dada-Köln (Hans Arp) und Dada-Hannover (Kurt Schwitters dada-orientierte „Merz“-Bewegung) sowie zahlreiche dadaeske Filialen in aller Welt – Dada-Holland, Dada-Belgien, Dada-Russland, Jugo-Dada oder auch Tokio-Dada. Die „Dadaglobe“-Ausstellung folgt glücklicherweise keinem Starsystem, sondern vertraut dem additiven Nebeneinander, in dem eher randständige Phänomene nicht in irgendwelchen Ecken abgestellt werden. So ist auch jenseits kanonisierter Werke Unbekanntes zu sehen – beispielsweise Publikationen des „ersten“ japanischen Dadaisten, Shinkichi Takahashi.
Dada war also ein annähernd globales Phänomen, das trotz nationaler Eigenheiten einen universalen „international style“ hatte. Die Dada-KünstlerInnen bewegten sich souverän zwischen den künstlerischen Brennpunkten – insbesondere Picabia war ein Umherschweifender zwischen den Städten. Heute Barcelona, morgen New York, übermorgen Zürich und Paris. First we take Manhattan, then we take Berlin. Im Grunde nicht so viel anders als heutige Jet-Set-Künstler, das Tempo war wohl etwas relaxter.
Obwohl sich die dadaistische „Anti-Kunst“ entschieden gegen die traditionelle Kunst richtete, verlangte sie – und das macht die Ausstellung vor allem in den thematischen Räumen deutlich – nach neuen Materialien, Techniken und künstlerischen Verfahrensweisen. Der Moment des Zufalls, der Aspekt des Spiels, Dilettantismus und „unkünstlerische“ Materialien wurden in die Kunst miteinbezogen, wie in Schwitters Arbeit „Hansi“ zu sehen, einer seiner ersten Zeichnungen, in die alltägliche Materialien – in diesem Fall handelte es sich um ein aufgeklebtes Papier Hansischokolade – verarbeitet wurden. Von Rayographien, einem speziellen fotografischen Verfahren Man Rays, über die Reliefs von Arp bis hin zu Schwitters „Ursonate“ werden sämtliche dadaistische Innovationen vorgestellt. Auch unterschiedlichste Genres (Musik, Theater, Tanz, Literatur etc.) wurden miteinander vermischt – lange Zeit bevor es so scheußliche Wörter wie „Crossover“ gab.
Der oftmals verabsolutierende Charakter der dadaistischen Idee zeigte sich im bevorzugten Genre jeder Avantgardebewegung: dem Manifest. Der unbedingte Wille, sich zu entäußern – obwohl es dabei nicht um „Ausdruck“ ging – führte zu einem wahren Publikationsfieber. Die Zeitschriften hießen Dada, 391 oder Cannibale, Schriften trugen Titel wie „Deutschland muss untergehen“ oder einfach „Der Dada“. Die dadaistische Sprache und Schrift war aber nicht nur Laut- oder Simultangedicht, Manifest, Slogan oder Proklamation, sondern auch eine visuelle Sprache, die typografische Experimente liebte. In einem nicht enden wollenden Schaukasten sind hunderte von grafischen Entwürfen, Zeichnungen und Skripte des geplanten „Dadaglobe“ zusammengetragen worden. Buchstaben- und Zeichenschwärme kommen einem da entgegen und man hat irgendwie das Gefühl, dass plötzlich alles in Bewegung gerät. Die Papiere in den Vitrinen haben überhaupt nichts Staubiges oder Muffiges.
Zu den Evergreens dadaistischer Darstellungen gehören sicherlich die Puppe und die Maschine. Puppen oder roboterähnliche Figuren als fremdgesteuerte, automatisierte Wesen sind in den Lithografien Max Ernsts ebenso zu finden wie in den Fotos Man Rays, den Collagen von George Grosz und in den abstrakten Marionetten Sophie Taeuber-Arps. Im Unterschied zu der fast fanatischen Maschinenbegeisterung der Futuristen zeigt sich die dadaistische Maschine – etwa in den Maschinenbildern Picabias oder der Junggesellenmaschine Duchamps – als (weibliches) Zwitterwesen zwischen Mensch und Maschine, das zugleich dämonisiert wie fetischisiert wird.
Performance- und Aktionskunst sowie alternative Formen der Selbstinszenierung waren bei den Dadaisten ebenso beliebt. Auch queere Praktiken hatten darin ihren Platz, wie man an den irrationalen, sexuell mehrdeutigen Inszenierungen der Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven sehen kann oder auch an Duchamps Cross-Dressing in der Gestalt von „Rrose Sélavy“, einer Fotoserie Man Rays. Doch gerade die verschiedensten Formen der Selbstinszenierung, der öffentliche Auftritt lassen sich kaum in einen Ausstellungszusammenhang integrieren – vor allem nicht das, was man „Spirit“ nennt – alles, was eben Dada ist, ohne sich gleich materiell niederzuschlagen. Max Ernst stand dem Vorhaben, Dada ins Museum zu stecken, skeptisch gegenüber und sagte 1958 anlässlich einer Ausstellung in Düsseldorf, die Teile einer explodierten Granate solle man nicht mehr zusammenleimen. Vielleicht ist es auch nur der visuelle Overkill: Aber hier in dieser Ausstellung wird zwischen dem Sichtbaren etwas spürbar, das kurz davor zu sein scheint, einem gleich um die Ohren zu fliegen. Dieses Gefühl macht euphorisch.
Bis 9. Januar, Katalog 39,90 €, Kurzführer 8,00 €