: „Sterbende Wörter haben keine Lobby“
Der Journalist Bodo Mrozek (37) sammelt vom Aussterben bedrohte Wörter wie „Hagestolz“, „Vollbeschäftigung“ oder „Stegreif“ und setzt sie auf eine „rote Liste“. Denn das Verschwinden von Kostbarkeiten aus unserem Wortschatz wird kaum beachtet: „Wir haben es mit einer Dunkelziffer zu tun“
INTERVIEW ARNO FRANK
taz: Herr Mrozek, Sie haben ein „Lexikon der bedrohten Wörter“ geschrieben. Wovon sind die Wörter denn bedroht?
Bodo Mrozek: Vom Aussterben. Wörter können an Altersschwäche sterben, Wörter werden aber auch gemeuchelt von Neuworten, den so genannten Neologismen …
… die eindringen in die Sprache und das Althergebrachte meucheln?
Genau. Aussterbende Dinge bekommen ja immer viel Mitleid. Wenn man in den Achtzigerjahren groß geworden ist, dann hatte man mit Waldsterben zu tun, mit Walsterben … nur Wörter haben gar keine Lobby, und darum fand ich es wichtig, dass man sich dieser unterschätzten Bedrohung annimmt.
Unterschätzt, weil der Kahlschlag im Verborgenen stattfindet?
Richtig, der Prozess ist schleichend, die Bedrohung wird oft nicht erkannt, sondern erst dann, wenn die Worte weg sind. Außerdem ist das Ausmaß des Verlustes vollkommen unbekannt. Wir haben es mit einer Dunkelziffer zu tun.
Wie das?
Beim Duden beispielsweise werden Wörter rausgeworfen. Der Duden versteht sich als Gebrauchswörterbuch und will als solches den gängigen Wortschatz der Deutschen abbilden – im Gegensatz zum „Oxford English Dictionary“, das sich explizit als Sprachspeicher versteht und auch Worte aus der Shakespeare-Zeit enthält. Beim Duden geraten Wörter unter Verdacht – dieser Anfangsverdacht rührt sich im Sprachgefühl des Lektors, nach eigener Auskunft der Duden-Redaktion. Wenn so ein Wort erst mal unter den Verdacht des Veraltens gekommen ist, dann wird es unter Beobachtung gestellt. Findet man es dann nicht mehr in so genannten Korpora, also in elektronisch ausgewerteten Zeitungen, Zeitschriften und auch im Internet, dann wird dieses Wort als veraltet stigmatisiert und fliegt schließlich raus. Wie viele Wörter so verschwinden, wird nirgends erhoben.
Sind sie dann für immer verloren?
Es gibt Germanisten, die sich dann mit ihnen beschäftigen. Sprachwissenschaftler nennen diese veralteten Wörter „Archaismen“. Es wird derzeit wohl an Nachschlagewerken gearbeitet, ein kleines gibt es bereits. Aber mir geht es nicht vorrangig um die ausgestorbenen Wörter, sondern um die bedrohten.
Haben Worte nicht ohnehin nur eine beschränkte Lebensdauer? Irgendwann sterben sie doch alle aus …
Wörter können sterben, aber sie haben eine wesentlich längere Lebensdauer als Menschen oder Bäume. Die meisten Wörter sind ja schon sehr, sehr alt. Und es liegt an uns, ob sie sterben oder nicht.
Woher wissen Sie, ob ein Wort vom Aussterben bedroht ist? Weil es sich merkwürdig anfühlt, vom „Hagestolz“ oder vom „Backfisch“ zu reden?
Es gibt verschiedene Wortgruppen in der Kategorie „bedrohte Wörter“. Eine betrifft Wörter, die kaum noch jemand kennt. Die kann man fast schon als ausgestorben bezeichnen, weil sie höchstens noch sehr belesenen Zeitgenossen oder alten Menschen geläufig sind. Dann gibt es aber auch Wörter, die sind gerade so auf der Kippe, die empfinden wir schon als altmodisch, benutzen sie vielleicht noch, wissen aber gar nicht mehr, wo sie eigentlich herkommen.
Wie der Stegreif?
Wir sagen ja immer noch, „etwas aus dem Stegreif erledigen“. Nun verbreitet sich die falsche Schreibweise mit „h“, man glaubt offenbar, es käme von „stehen“ und „greifen“. Bei Google gibt es ungefähr 55.300 Einträge für Stegreif mit „h“. Tatsächlich ist der Steg-Reif ein altes Wort für Steigbügel, und jemand, der „aus dem Stegreif“ handelt, tut das so lässig, dass er dabei eben nicht mehr vom Pferd steigen muss. Und dann gibt es noch die dritte Gruppe von Wörtern, die ich unter persönliche Beobachtung gestellt habe, weil die Dinge, die diese Wörter bezeichnen, uns heute oft schon gar nichts mehr sagen. Wie „Vollbeschäftigung“. Sie ist in aller Munde, Politiker benutzen das Wort auch, zum Beispiel der Cashmere-Kanzler – übrigens noch ein Wort, das uns in Erinnerung ist und verschwinden wird. Wenn wir ehrlich sind, dann wissen die meisten von uns gar nicht mehr, wie sich „Vollbeschäftigung“ anfühlt, weil sie in ihrem ganzen Leben noch nicht vollbeschäftigt waren oder sich in absehbarer Zeit Hoffnung darauf machen können, „voll beschäftigt“ zu sein. Das sind dann Wörter, die man ruhig aussterben lassen kann …
Ist das nicht eine willkürliche politische Entscheidung? Ich muss doch nicht wissen, wie sich „Vollbeschäftigung“ anfühlt, um zu wissen, was damit gemeint ist und welche Hoffnungen sich für eine Gesellschaft damit verbinden.
Ich bin kein Politiker, sondern Wortsammler. Natürlich gibt es Sprachpolitik. Man denke nur an Wörter wie „Sippenhaft“ oder „Berufsverbot“, „Zonenrandgebiet“ im Westen und „Antifaschistischer Schutzwall“ im Osten. Die Politik hat es immer verstanden, Wörter in den Dienst ihrer Interessen zu stellen. Da wird viel Missbrauch betrieben. Kritischen Journalisten entziehen totalitär denkende Machthaber gerne das Wort und machen sie mundtot.
Wenn nun aber jemand sagt, diese Wörter seien lange genug totgeschwiegen worden und wir wollen dieses Kartell des Schweigens brechen …
… dann wäre ich der Letzte, der sich gegen diesen Trend zu bedrohten Wörtern stellen würde. Im Gegenteil, da sage ich: „Potztausend, das finde ich famos.“
Einfach „geil“ könnten Sie das nicht finden?
Geil stammt, was kaum jemand weiß, bereits aus dem Althochdeutschen, wo es ursprünglich so etwas wie „übermütig“ bedeutete, geriet dann aber im 15. Jahrhundert in Verruf, weil man es mit sexueller Erregung gleichsetzte. Danach ist es ein paar Jahrhunderte lang kaum noch zu finden und taucht erst Anfang der Achtzigerjahre wieder auf, als ein Pop-Duo namens Bruce & Bongo mit dem Lied „Everybody’s geil“ den Deutschen das Wort wieder vorhält. Heutzutage halten viele Leute „geil“ für einen Begriff aus der Werbersprache, ein Synonym für „Geiz“. Insofern ist das Wort auch auf meiner Liste …
Haben Sie für ihre Arbeit denn auch Steigbügelhalter?
Ein sehr gutes Beispiel, das prädestiniert wäre für die Aufnahme in die Liste der bedrohten Wörter. Ich sehe da akuten Handlungsbedarf und habe die „Aktion Artenschutz“ ins Leben gerufen, die Bevölkerung unterstützt mich mit sachdienlichen Hinweisen.
Wie genau?
Die Leute tragen täglich viele bedrohte Wörter auf meiner Website ein und beantragen dort Artenschutz. Die Wörter nehme ich in die „rote Liste“ auf und veröffentliche sie im Internet. Es ist eine Art Mahnmal.
Wozu die Musealisierung? Sollte man nicht vielmehr versuchen, die Wörter wieder in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen, sie sozusagen auszuwildern?
Tröstlich am Aussterben von Wörtern ist ja, dass man sie wirklich von den Toten zu den Lebenden überführen kann, indem man sie wieder benutzt. Dazu braucht es in manchen Fällen ein wenig Mut. Wenn man heute statt Disc-Jockey „Schallplattenunterhalter“ oder statt Dance-Event „Schwoof“ sagt, setzt man sich der Gefahr aus, für etwas wunderlich gehalten zu werden.
Oder sogar für, bestenfalls, kulturkonservativ, wenn Sie an von Rechten verwendete deutschtümelnde Begriffe wie „Weltnetz“ für Internet oder „Heimseite“ für Homepage denken …
Das Wort „konservativ“ macht ja derzeit eine Krise durch. Neuerdings stellt man ihm das Präfix „neo-“ voran, obwohl meist unklar ist, was daran neu sein soll. Es gehört deshalb auch schon fast auf die Liste bedrohter Wörter. Allerdings bin ich tatsächlich ziemlich konservativ. Ich würde gerne Wörter wie „Flugi“, „Waldsterben“ oder „Multikulti“ erhalten. Wenn man sich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, dann besteht die Gefahr, dass man überall nur noch bedrohte Wörter sieht.
Aber welche Methoden gäbe es denn nun, diese Bedrohung abzuwenden?
Gerade mache ich mir Gedanken über die Errichtung eines Wörterfriedhofs, beispielsweise in einer vom Aussterben bedrohten Gegend, vielleicht irgendwo in einer schrumpfenden Stadt im Osten der Republik oder auf einem stillgelegten Zechengelände im Westen. Dort könnten die Handwerker aussterbender Berufe mit aussterbenden Werkzeugen – wie der „Punze“ – Grabsteine für ausgestorbene Wörter errichten, was diese Gegend vielleicht schrittweise wieder beleben würde. Sprachfreunde könnten dort Zwiesprache halten mit ihren Wörtern …
Und wer soll das bezahlen?
Als Finanzierungsmodell denke ich an die Bundeskulturstiftung, man könnte auch die Anerkennung als Weltkulturerbe beantragen. Möglich wäre aber auch, was man mit einem hässlichen Neuwort „Private Public Partnership“ nennt: Wortpaten, also eine private Initiative von Sprachfreunden, die sich um ihr Wort kümmern.
Sollten dann auch Firmen werbewirksam als Sponsoren gewisser Wörter auftreten können?
Da bin ich ganz offen.