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Archiv-Artikel

Alles in einem Film unterbringen

Am Samstag wird Jean-Luc Godard 75 Jahre alt. Früher waren seine Arbeiten Kunstereignisse, über die alle sprachen; heute startet sein jüngster Essayfilm, „Notre Musique“, zunächst nur in einem Berliner Programmkino. Was ist aus den Kunstwerken geworden, die alle angehen?

Ist das Politische durch die Kunst erreichbar? In „Notre Musique“hat Godard stapelweise Antwortenauf diese Frage parat

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Zuerst ein Flackern. Hell. Dunkel. Scharfe Schattenrisse. Einsame Klavierklänge, Explosionen, Farben. Krieg als psychedelische Eruption und als naturalistische Flutwelle aus Blut, die die Betrachter verschluckt. Nüchterne Panzerkompanien aus 90er-Jahre-Nachrichtenbildern – ob aus Nato-Manövern oder spätjugoslawischen Kriegen, können nur die Kenner der Waffengattungen erkennen. Dann Leichenberge, Angstgesichter, hetzende und gehetzte Horden. Römer, Ritter, Cowboys und Indianer. Darunter auch die mir immer schon Schrecken einjagende Szene aus Eisensteins „Alexander Newski“, in der eine Armee mit Blecheimer-Helmen unter heftigen Stichen in den unteren Bildrand sich durch ihre Gegner durchmordet, als wäre das eine dem Paddeln im Einer-Kanadier ähnliche Fortbewegungsart. Indianerheere aus amerikanischen Western reiten ihnen entgegen. Die Bilder sind grell farbig, verfallen schwarz-weiß, zu hell oder zu dunkel, solarisiert oder verpixelt, sie stammen aus Dokumentar- und aus Spielfilmen. Godard hat sie mal nach erkennbar analytischen Kriterien in Zweiergruppen komponiert, dann musikalisch oder assoziativ zu kleinen Knallern verdichtet.

Dieser Bilderstrom am Anfang von „Notre Musique“ sieht ähnlich aus wie in seinen essayistischen „Histoires de cinéma“, die Godard seit den späten 80ern in Portionen herstellt, und er gibt Ähnliches zu denken. Und ist doch etwas ganz Bestimmtes im Zusammenhang dieses neuen Filmes, nämlich die Hölle. „Erstes Königreich – Die Hölle“ heißen mit Dante die ersten zehn Minuten des Spielfilms, der uns nun über eine Stunde ins Fegefeuer führen wird, bevor wir ganz am Schluss noch ein paar Blicke aufs Paradies werfen können. Das ist übrigens ein unspektakuläres Teichufer, das von amerikanischen Soldaten bewacht wird. Man spielt dort Volleyball und liest Krimis, deren Titel auf Deutsch „Ohne Hoffnung auf Wiederkehr“ lauten würden.

Der je neue Godard-Film war früher ein gesellschaftliches Ereignis, das die Grenzen der Gemeinden öffnete. Solche Ereignisse gibt es seit den 70er-Jahren nur noch beim Kino: dass eine einzige Arbeit – nicht eine documenta oder ein Festival, nicht ein neues Genre oder ein neuer Stil – das Interesse aller Kunst- und Kulturmenschen erreicht, Gesprächsstoff wird für die Raverin wie für den Dandy, für Rocker und Philosophen, für den Theatergänger wie für die Popmusik-Kennerin. Diese Art von Aufmerksamkeit unterscheidet das Kunstwerk vom Mainstream-Ereignis, das niemanden wirklich, aber alle ein bisschen interessiert. Es ist der letzte Rest der klassisch bürgerlichen Kultur und ihres Anspruchs, dass besonders große Kunstwerke besonders viele und verschiedene Leute so erreichen müssen, dass alle das Gefühl haben, mit allen anderen dringend über das Gesehene reden zu müssen. Beim Mainstream-Ereignis spiegelt sich eher die Investitionshöhe in der bezahlten Aufmerksamkeitsintensität.

Das Kunstereignis von allgemeinem Interesse basiert auf zwei Voraussetzungen: Seine Rezeption muss mit einer allgemein verbreiteten kulturellen Gewohnheit verbunden sein – wie der, ins Kino zu gehen. Leute, die ins Konzert oder ins Theater gehen, laufen auch ins Kino – umgekehrt gilt das nicht. Godard-Filme aber, die man nur gerippt aus dem Netz, als DVD in drei wohlsortierten Läden in der ganzen Republik oder eben als eine einzige Filmkopie auf Wanderschaft durch die Programmkinos zu sehen bekommt, rutschen in den Spezialistenkosmos, wo sie zwar mit offenen Armen empfangen werden, aber auch gefangen bleiben und in Hochgebildeten-Biografien versacken.

Wichtiger noch: Das fragliche Kunstwerk muss sich auf eine gemeinsame Erfahrungswelt und eine daraus hervorgehende, große Frage der Zuschauer beziehen. Dies war – beim nichtspezialistischen erweiterten Godard-Publikum bis in die späten 80er-Jahre – die wie auch immer verwässerte und zugleich verkomplizierte Frage nach Schönheit und Politik, ja nach der prinzipiellen Erreichbarkeit des Politischen durch Kunst.

In seinem neuen Film hat Godard genau wie früher sofort Antworten auf diese Frage. Stapelweise. „Notre Musique“, unsere Musik, spricht nicht umsonst schon im Titel emphatisch von einem Wir. Wer genau dieses Wir ist, bleibt zwar offen, die Musik wird aber im Laufe des Films identifiziert. Es ist der Gegenschuss als zweiter Teil der, wie Godard sagt, elementaren Grammatik des Kinos: Schuss – Gegenschuss. Nicht das Prinzip selbst, nicht die dialektische Synthese, die Auflösung der Gegensätze in einem Dritten, sondern einfach der zweite Blick, die Gegenrichtung, die andere Seite – das ist unsere Utopie, unsere Waffe, unsere Musik. Das zweite Gutachten, die B-Probe – darauf ruhen unsere Hoffnungen. Godard selbst als Godard bringt es einem Studenten-Publikum in Sarajevo bei. Ja, das Fegefeuer ist nämlich ein Literatur-Symposion in Sarajevo, und von Juan Goytisolo bis Mahmoud Darwisch geben die eingeladenen internationalen Poeten sich selbst. Gehend tragen sie Großeinschätzungen vor, im Halbdunkel gewähren sie Interviews, so ornamentieren sie die Spielhandlung: die Geschichte einer russischstämmigen Jüdin, die, wie man am Ende der Fegefeuer-Episode einem Telefonat in Godards Garten entnimmt, schließlich von israelischen Sicherheitskräften erschossen wird, als sie die begnadete Idee auszuführen versucht, mit Büchern als Sprengstoffattrappen ein Selbstmordattentat für den Frieden zu begehen. Auf so was kommt man auf Symposien.

Godard ist dort eingeladen, um über Text-Bild-Verhältnisse zu referieren. Sein Vortrag steht im Zentrum der Fegefeuer-Episode und gipfelt in der Verklärung des Gegenschusses. Er hält zwei Bilder aus einem Hawks-Film hoch, ein Mann und eine Frau, Schuss und Gegenschuss. Der Regisseur, so Godard, sei aber leider unfähig, den Unterschied zwischen einem Mann und einer Frau, die sich ähnlich sind, zu zeigen. War das nicht, was man an Howard Hawks immer so geschätzt hat, die offensive Weigerung, Unterschiede zwischen Mann und Frau herauszuarbeiten?

Mann – Schuss, Frau – Gegenschuss, Israel – Schuss, Palästina – Gegenschuss, Israel – Fiktion, Palästina – Dokumentarfilm. Godards Gedankenketten erinnern an jene apodiktische Behauptungspoesie, so gestisch präzise wie poetisch offen, die man in den 80er-Jahren geliebt hat und die damals nicht unproduktiv war. Heute klingt sie oft ein bisschen frivol in den dunkel getönten Nachkriegsbildern von Ruinen, Hotelfoyers, Ministerien, Auditorien, Botschaften und Straßenbahnen Sarajevos. Und wirkt ein bisschen postpotent inmitten der großen Themen, die sie erhellen helfen soll: was Menschen anderen Menschen antun, Konzentrationslager, Heckenschützen, jüdische Schicksale zwischen Nazi-Deutschland, Russland, Lyon und Tel Aviv, palästinensische und ägyptische Schicksale, warum nicht die Humanen mal eine Revolution beginnen, wie man wieder Substanz hinter die leeren Bilder kriegt, wie man den Text von den Bildern runterkriegt, wie es wäre, wenn Tod und Leben das Gleiche wären, ob die Dichter wissen, wovon sie reden (nein, Homer war blind und gelangweilt), dass der Kommunismus genau zweimal 45 Minuten existiert hat, als nämlich Honved in Wembley die britische Nationalmannschaft 6:3 besiegte, und ob man schon mal von einer toten Biene gestochen worden ist. Das Letzte war natürlich ein Cineastenscherz: Mit dieser Zen-Frage, einem von dem Kauz Walter Brennan geraunzten running gag aus Howard Hawks’ „To Have and Have Not“, werden die Symposionsteilnehmer auf der Taxifahrt vom Flughafen Sarajevo begrüßt.

Jean-Luc Godard wird am 3.Dezember 75 und bleibt in „Notre Musique“ einer Maxime treu, die er schon vor fast 40 Jahren über einen Artikel in L’Avant-Scène du Cinéma geschrieben hat: „Man muss alles in einem Film unterbringen.“ Im Verhältnis zu allem sind nämlich auch die Heerscharen von Bonmots, die hier Sarajevo unsicher machen, etwas anderes, als wenn sie die goldenen Worte wären, auf die ein prätentiöser Film zusteuert. Zugleich tief und unkonzentriert zu sein, fahrig und absolut geschmackssicher, kleinjungshaft und abgeklärt elegant – das macht Godard keiner nach. Seine Musik, das Kino als Weltanschauung, als sowohl mitschuldige wie kritisch-korrigierende Kraft des 20. Jahrhunderts, stockt und holpert nicht. Manche Sätze, wie die Sophie Scholl zugeschriebene Zeile vom Traum des Staates, der eins sein will, und dem des Individuums, zwei zu sein, zitiert Godard zwar nicht zum ersten Mal. Und auch die perfekt ins ECM-Repertoire passenden Soundtracks haben schon fast etwas von einem Markenzeichen. Aber das wiegt nicht schwer.

Denn auch heute gibt es noch diese Filmkunstereignisse, über die jeder redet, aber dies sind jetzt Filme von Lars von Trier oder Jim Jarmusch. Die aber stellen nur eine Frage pro Film oder zwei und können sich – bei allem Respekt – auch mit den Spät- und Nebenwerken von Godard nicht wirklich messen. Dessen Filme aber sind seit „Nouvelle Vague“ und „Allemagne neuf zero“, also seit Wiedervereinigung und Postsozialismus, hier nur in den Nischen des Avantgardebetriebs zu sehen. Man könnte glatt kulturpessimistisch draufkommen: die Makrotendenzen der Gegenwart – Restauration und Traditionalismus einerseits, Markttotalitarismus andererseits – sind eben auch Feinde des großen Kunstwerks, das alle angeht.

„Notre Musique“, Regie: Jean-Luc Godard. Mit Judith Lerner, Nade Dieu u. a., Frankreich 2004, 80 Min.