: Das Amt tiefer hängen
Die Kanzlerschaft und die Aura der Macht: Nicht mehr (wie ehedem bei Hegel) von der Philosophie, wohl aber vom deutschen Regierungschef verlangt man, den Zeitgeist einer ganzen Generation auszudrücken. Wird Angela Merkel das nun ändern?
VON WOLFGANG ULLRICH
Man stelle sich vor, Gerhard Schröder hätte sich entschlossen, auch den Posten eines Vizekanzlers und Außenministers attraktiv zu finden – und säße morgen, bei der Aussprache zu ihrer ersten Regierungserklärung, neben Angela Merkel auf der Regierungsbank. Vermutlich hätte die Kanzlerin dann ein großes Problem. Denn Schröder hätte mit dem neuen Amt wohl kaum seine Art des Auftretens geändert: Er wäre der legendäre Kanzlerdarsteller geblieben. Rein performativ hätte er, vielleicht nicht ganz so direkt wie am Wahlabend, die Macht weiterhin für sich reklamiert und Angela Merkel bestenfalls nach Vize aussehen lassen.
Es hätte also eine kritische Situation entstehen können, in der die eine die Richtlinienkompetenz besitzt, der andere aber die Aura der Macht. Dass eine solche Doppelspitze binnen weniger Monate unerträglich geworden wäre, liegt auf der Hand – und vielleicht muss man es Gerhard Schröder danken, der Versuchung, sich weiterhin in den Vordergrund zu stellen, nicht nachgegeben zu haben.
Doch war es wohl weniger Rücksichtnahme und Sorge vor den drohenden Verwicklungen, was ihn davon abhielt, als vielmehr sein Amtsverständnis als Bundeskanzler. Ein deutscher Bundeskanzler ist offensichtlich nicht mit einem französischen oder italienischen Ministerpräsidenten oder mit den Regierungschefs der meisten anderen westlichen Demokratien zu vergleichen. Ist es dort nämlich kein Problem oder gar selbstverständlich, dass ein Ministerpräsident, der sein Amt verliert, in einer späteren Regierung als Minister mitarbeitet, um schließlich vielleicht sogar ein zweites oder drittes Mal an die Spitze der Regierung zu treten, gab es dergleichen in der Bundesrepublik noch nie. Kanzler ist man einmal – und danach ist man nichts anderes mehr.
Das aber ist ein starkes Indiz dafür, dass das Amt des Bundeskanzlers in Deutschland geradezu mythisch aufgeladen ist. Auf ihren jeweiligen Kanzler sind die Deutschen sogar regelrecht fixiert. Der Kanzler ist für sie die demokratische Version eines Königs oder Papstes; sie kennen kein vergleichbares, schon gar keinen höheres Amt. Konrad Adenauer setzte hier die Standards, als er 1959 davon Abstand nahm, sich nach zehn Jahren Kanzlerschaft für das Amt des Bundespräsidenten zu bewerben. Gerade weil das rein protokollarisch ein weiterer Aufstieg gewesen wäre, hätte es die Bedeutung des Kanzleramts beeinträchtigt: Dieses wäre als bloße Station innerhalb einer Karriere erschienen, ja Adenauer hätte mit seiner Bewerbung den Eindruck erweckt, dass er seine Möglichkeiten als Kanzler noch unbefriedigend fand; er hätte also seine eigene Amtsführung diminuiert. Indem er aber lieber Kanzler blieb, festigte er den Status dieses Amtes.
Seither ist klar, dass ein Exkanzler zumindest an keinem anderen öffentlichen Amt Interesse haben darf. Als Ludwig Erhard oder Helmut Kohl nach ihrem Abschied als Kanzler noch ein paar Jahre als Hinterbänkler im Bundestag saßen, wurde das bereits häufig kritisch kommentiert und als etwas stillos empfunden. Kaum vorstellbar wäre in Deutschland auch, dass ein ehemaliger Kanzler einen exekutiven Posten in der Wirtschaft anstrebt. Anders schon in Österreich, wo Viktor Klima, nachdem er Bundeskanzler war, die VW-Niederlassung in Argentinien übernahm. Das lässt jedoch den Schluss zu, ein österreichischer Kanzler sei gerade so viel wert wie ein höherer Manager, was das politische Amt ziemlich profanisiert.
Nur durch den Verzicht auf weitere Ämter wird verhindert, dass ein Kanzler etwas von der Autorität, die diesem Amt zugehört, als Person „mitnimmt“ und es damit in seiner Sonderstellung beschädigt. Somit hat er am Ende seiner Amtszeit zugunsten seines Nachfolgers als Machtfigur so plötzlich zu verschwinden, als wäre er gestorben, was in der Mediendemokratie einfach dadurch geschieht, dass die Kameras umgeschwenkt und die Scheinwerfer ausgeschaltet werden. Deutsche Exkanzler wirken nur noch im Schattenreich der Macht; sie haben geheimnisvolle Beraterverträge und nehmen diffuse Berufsbezeichnungen wie Publizist an, so als sei es ihr einziges Gebot, eine möglichst nebulöse Existenz zu führen, um nur ja nicht noch einmal als Repräsentanten der Macht empfunden werden zu können.
Warum aber besitzt das Kanzleramt in Deutschland überhaupt einen solchen Nimbus? Ist die Rolle des Bundespräsidenten zu schwach angelegt, um eine Konzentration der Macht auf ein Amt verhindern zu können? Oder haben Phantomschmerzen einer monarchistischen Mentalität zu einer Überhöhung des jeweiligen Kanzlers geführt? Freilich lässt die Herkunft der bisherigen Kanzler nicht gerade den Schluss zu, man trauere den Zeiten des Adels nach.
Im Unterschied zu vielen anderen Ländern entstammen die Politiker hier nämlich keineswegs überwiegend einem privilegierten Milieu, das sie früh für eine politische Karriere ausgebildet hätte. In Deutschland scheint sogar im Gegenteil zu gelten, dass Kanzler eher wird, wer von seiner Herkunft her ein Handicap besitzt: als uneheliches Kind wie Willy Brandt, als Hauptschüler mit zweitem Bildungsweg und drei Scheidungen wie Gerhard Schröder, als Frau aus dem Osten wie Angela Merkel.
Doch gerade das Handicap erhält Symbolcharakter; ihm zum Trotz Kanzler werden zu können zeugt jeweils von einer gesellschaftlichen Veränderung und einem Wertewandel – davon, dass für etwas zuerst kaum Denkbares die Zeit gekommen ist. Der Weg ins Kanzleramt ist in Deutschland immer wieder die Geschichte eines märchenhaften, geradezu aschenputtelähnlichen Aufstiegs, was den jeweiligen Kanzler nicht zuletzt zum Repräsentanten einer Zeitströmung und Ära werden lässt. In Deutschland wird nicht mehr, wie ehedem bei Hegel, von der Philosophie, sondern vielmehr vom Kanzler (wohlgemerkt nicht vom Bundespräsidenten!) verlangt, seine Zeit – die Mentalität einer ganzen Generation – auszudrücken. Zumindest einen Teil seiner Legitimation und seiner besonderen Ausstrahlung erhält das Kanzleramt erst dadurch, von so etwas wie dem Zeitgeist besetzt zu werden.
Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass sich in Deutschland die meisten Kanzler, wiederum verglichen mit den Regierungschefs anderer Demokratien, ziemlich lange halten. Man scheut sich, sie zu schnell auszutauschen, da das ja so ausgelegt werden könnte, als wollte man sich dem Lauf der Zeit widersetzen: Wen diese, meist nach harten Bewährungsproben, als ihren Repräsentanten erwählt hat, den darf man nicht gleich wieder fallen lassen – der muss bleiben, bis sich die nächste Generation oder zumindest eine ähnlich starke gesellschaftliche Strömung Anrechte erworben hat. (Diesem Umstand verdankte Rot-Grün 2002 die Wiederwahl, da viele fanden, vier Jahre seien doch zu kurz für die 68er-Generation.)
Es liegt auch an der Märchenhaftigkeit ihres Aufstiegs, dass es für deutsche Kanzler danach keinen Abstieg mehr geben darf. Das hieße, eine Geschichte über ihr Happy-End hinaus zu erzählen. Insofern dürfte Gerhard Schröder einen formvollendeten Abgang hinbekommen haben, was den Nimbus des Kanzleramts uneingeschränkt weiter strahlen lässt. Und Angela Merkel? Reicht der ihr attestierte Pragmatismus so weit, dass sie für diesen Nimbus eventuell gar nicht mehr empfänglich ist? Wird sie die Erste sein, die das Amt nicht als Krönung empfindet, sondern als Lebensabschnitt unter anderen? Oder wird das Kanzleramt durch sie noch mehr aufgeladen, weil ihr Weg dorthin der unwahrscheinlichste und damit märchenhafteste war, den es bisher gab?
Zu bedenken ist freilich, dass, wer einer großen Koalition vorsteht, seine Macht einer von vornherein instabilen Mehrheit verdankt und daher kaum damit rechnen darf, lange Zeit vor sich zu haben. Sollte die Koalition aber nach zwei, drei Jahren zerbrechen, dann müsste das nicht zwangsläufig das Ende der Spitzenpolitikerin Angela Merkel bedeuten. Eher als ihren Vorgängern wäre ihr zuzutrauen, dass sie im zweiten Glied weitermacht, in einer anderen Konstellation auch ein Ministeramt annimmt, um vielleicht sogar irgendwann ein weiteres Mal Kanzlerin zu werden. Anders als die westdeutschen Männer der Nachkriegsgesellschaft kennt eine Frau aus der ehemaligen DDR nämlich nicht nur das Lebensmodell kontinuierlichen Aufstiegs, sondern hat ebenso das Umsteigen gelernt. Neuanfänge und Zwischenlösungen werden nicht notwendig als Niederlagen empfunden, weshalb das Ende einer Kanzlerschaft auch nicht als politischer Tod hingenommen werden müsste.
Das Signal, das davon ausginge, wäre nicht hoch genug einzuschätzen. Es würde von vielen als Verletzung einer ungeschriebenen Regel aufgefasst, was aber endlich auch eine Diskussion über die seltsam auratische Rolle des deutschen Bundeskanzlers ermöglichte. Das Amt würde damit vielleicht von Ansprüchen entlastet, die eigentlich nur enttäuscht werden können, weil seine Inhaber eben doch keine Auserwählten sind. Und so sollte eine der größten Hoffnungen, die sich mit der Kanzlerin Angela Merkel verbinden, darin bestehen, dass sie nicht zu lange im Amt bleibt, um eines Tages aber ein furioses Comeback zu starten. Es wäre doch etwas, wenn sie später einmal als Erste mit zwei Porträts in der Kanzlergalerie vertreten wäre?
Vom Autor erschien soeben das Buch „Was war Kunst?“, Fischer Verlag