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Archiv-Artikel

Regime der Angst im Nordkaukasus

Kreml-Sonderbeauftragter Dimitri Kosak stellt fest: Schuld an der instabilen Lage in den russischen Teilrepubliken ist nicht der Terror von Islamisten, sondern korrupte, von Moskau gestützte Eliten. Diese entmündigen die Bevölkerung und stürzen sie ins wirtschaftliche Elend

Seit elf Jahren führt Moskau in Tschetschenien Krieg, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Statt den Unruheherd zu isolieren und zu befrieden, haben die Auswirkungen des Feldzuges inzwischen auch die anderen nordkaukasischen Republiken in Mitleidenschaft gezogen. Und dies obwohl die Nachbarvölker der Tschetschenen sich bewusst aus dem Konflikt herausgehalten und damit ein Bekenntnis zu Russland abgelegt hatten. Mittlerweile gehören Attentate und Überfälle auch in diesen Gebieten zur Tagesordnung. Die Region befindet sich in einem Quasikriegszustand.

Ungeachtet der Kremlpropaganda von Stabilität und Frieden hat Moskau die Brisanz der Lage erkannt. Im letzten Jahr ernannte Präsident Wladimir Putin daher Dimitri Kosak zum Sonderbeauftragten im russischen Südbezirk. Kosak ging der Ruf voraus, einer der fähigsten Köpfe in der Präsidialadministration zu sein. Seither eilt er als Feuerwehrmann von Brandherd zu Brandherd.

Im Sommer legte Kosak dem Kreml einen ersten Bericht vor, der in Russland nur in Auszügen publiziert wurde. Der Kremlbeauftragte gelangt zu dem Schluss, dass die destabilisierenden Faktoren im Kaukasus nicht im sich ausweitenden „internationalen Terrorismus“ oder dem Anwachsen des Wahhabismus zu suchen sind. Dazu findet sich in dem Bericht kein einziges Wort. Bislang hatte Moskau aber sein Vorgehen in Tschetschenien vor allem mit der Terrorbereitschaft radikaler Islamisten begründet.

Vielmehr sei der Grund, weshalb sich der Konflikt ausweite, im Verhalten und Wirken der Führungseliten in den kaukasischen Republiken zu suchen, meint Kosak. Unter ihrer Ägide ist das „System von Kontrollmechanismen zerstört worden, was zu einer immensen Verbreitung der Korruption geführt hat“. Geschlossene Clanstrukturen in Regierung und Verwaltung, so Kosak, hätten die politischen und wirtschaftlichen Ressourcen vollständig monopolisiert. Sie seien an einem offenen Dialog mit den Bürgern nicht interessiert. Die Willkür der politisch Verantwortlichen fördere nicht nur die soziale Apathie der Bevölkerung, sondern langfristig auch die Bereitschaft zu radikalen Gegenmaßnahmen.

Als im Oktober über hundert Jugendliche die Hauptstadt Kabardino-Balkariens Naltschik für einige Stunden in ihre Gewalt brachten, schien sich diese These zu bestätigen. Zwischen 60 und 80 Prozent der Jugendlichen haben weder Arbeit noch eine Aussicht auf ein besseres Leben. Suchen diese Jugendlichen Halt im Glauben, so erfüllt die Religion zunächst die Funktion eines Vehikels für sozioökonomische und politische Forderungen. Das ließ sich dem Kosak-Bericht entnehmen. Dennoch stellte der Kreml die Ereignisse von Naltschik dar, als wären sie die Folge islamischen Terrors.

Das Regime in Kabardino-Balkarien zeichnet sich durch einen besonderen Autoritarismus aus, mit einem Netz von Sicherheitsorganen, das die gesamte Republik überzieht und die Bürger einschüchtern soll. Die Übergänge zwischen Amtsträgern und der Unterwelt sind fließend.

Die Lage in den Nachbarrepubliken ist ähnlich: Ihre Präsidenten vermengen private Interessen mit dem Öffentlichen bis zur Unkenntlichkeit. Für die Anstellung im Staatsdienst ist das persönliche Verhältnis zum Republikschef ausschlaggebend, der nach eigenem Gutdünken schaltet und waltet. Ein ausgeklügeltes Prinzip von „Angst und Belohnung“ sichert die Herrschaft. Gleichzeitig siechen Verwaltung und Versorgung der Bürger auf niedrigstem Niveau dahin.

Die Fakten sind den Machthabern im Kreml bekannt. Sie könnten dagegen auch etwas unternehmen, da es nach der Änderung des Wahlsystems dem Kreml freisteht, Republikchefs selbst zu ernennen. Dennoch hält er an den alten Eliten und Clans fest. Nach dem Tod des kabardinischen Präsidenten Valeri Kokow hievte Russland mit Präsident Arsen Kanokow einen Abkömmling des alten Clans auf den Thron.

Auch in Dagestan schreckte Moskau davor zurück, den seit über 15 Jahren herrschenden Magomedali Magomedow aufs Altenteil zu schicken. In Inguschetien setzt es weiterhin auf den Geheimdienst Mann Sjiasikow, unter dessen Ägide sich die Republik in einen offenen Kriegsschauplatz verwandelt hat. Sjiasikow hat keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Dass der Kreml nichts unternimmt, wertet die Bevölkerung im Kaukasus als eine stillschweigende Identifikation Moskaus mit den korrupten politischen Frontmännern. Die Folgen liegen auf der Hand: Missstände, die bislang den Regierenden in der Region angelastet wurden, werden zunehmend dem Kreml zugeschrieben. Die antirussische Stimmung wächst und ruft bereits faschistoide slawische Gegenbewegungen auf den Plan.

Die Furcht vor selbstständigen Politikern in den Regionen, die in der Bevölkerung Rückhalt genießen, ist in Moskau stärker ausgeprägt als die Angst vor den destruktiven Folgen der Klientelpolitik. Moskau nimmt unabhängige regionale Eliten immer noch als Kräfte wahr, die Russland in die Desintegration steuern. Diese war indes, wie der Tschetschenienkrieg zeigte, lange Zeit ein Hirngespinst des Kremls. Durch aktive Hilfe der moskautreuen Eliten verwandelt sich diese Chimäre gleichwohl in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. KLAUS-HELGE DONATH