: Spiel es für mich, Pandora
Während die Plattenindustrie verzweifelt nach neuen Absatzmärkten sucht, finden die Innovationen im Internet statt. Der jüngste Knaller: Pandora, die intelligente Jukebox mit dem Musikprogramm für jeden Geschmack
VON TARIK AHMIA
Wer jemals unter der lausigen Musikauswahl eines Radiosenders gelitten hat, darf Tim Westergren ewig dankbar sein. Denn er hat das Musikprogramm erfunden, das jedem gefällt. Unmöglich? Doch möglich. Im Internet kann sich jeder unter www.pandora.com sein maßgeschneidertes musikalisches Audiostream erstellen lassen – seit neuestem sogar kostenlos. „Pandora“ passt sich dem Musikgeschmack jedes Hörers an – und löst damit das Dilemma, unter dem alle Musikprogramme bisher litten: Radios senden für ein Massenpublikum – Musik ist aber ein von persönlichen Geschmacksfragen bestimmtes Gut.
Am Anfang stand die Vision eines Musikverrückten: „Jedes Lied hat eine Formel“, glaubte Tim Westergren, als er sich vor fast sechs Jahren auf die Suche nach dem heiligen Gral der Popmusik begab. Nichts Geringeres als das „Erbgut der Musik“ wollte der heute 39-jährige Komponist und Musiker aus San Francisco entschlüsseln: „Mich hat immer die Frage interessiert: Wieso mag jemand eine bestimmte Musik?“
Den Geistesblitz für sein „Musik Genom Projekt“ hatte Westergren schon in den 90er-Jahren, als er noch Filmmusik komponierte. „Einige Regisseure erklärten mir ihre musikalischen Wünsche mit Vergleichen. Als sich zum Beispiel jemand Natalie Merchant wünschte, hatte ich gleich ein Raster im Kopf: melancholisch, Moll, langsam vor sich hin fließend.“ Solche Eigenschaften müssten sich doch für jeden Song finden lassen, dachte sich Westergren und machte sich an die Arbeit. Was anfangs belächelt wurde und oft vor dem finanziellen Aus stand, führte letztlich zum Erfolg. In einer immensen Fleißarbeit haben Westergren und sein Team von etwa 60 Musikern und Programmierern so etwas wie die „Jukebox des Kolumbus“ gefunden.
Die intelligente Musikbox soll nicht nur unterhalten, sondern kann auch helfen, neue Musik zu entdecken, die den persönlichen Geschmack trifft. Wie ein geduldiger Musikexperte erkundet das System nach und nach die persönlichen Präferenzen.
Pandora kommt als simples Fensterchen mit Texteingabe daher. Tippt man den Namen eines Musikers, Sängers oder einer Band ein, startet im Nu der persönliche Audiostream mit Songs in voller Länge, die den musikalischen Eigenschaften des Wunschtitels entsprechen. Pandora lernt den Geschmack jedes Hörers laufend besser kennen, denn für jeden Song kann man seine Meinung abgeben.
Das Schönste an diesem ungewöhnlichem Konzept ist: Es funktioniert überraschend gut. Nach jedem Song herrscht gebanntes Rätselraten, was Pandora wohl als Nächstes auflegt. Selbst Musikkenner überrascht es oft mit hörenswerten unbekannten Titeln.
Das liegt nicht an genialen mathematischen Formeln, sondern an dem riesigen Erfahrungsschatz vieler Profimusiker, deren Wissen in Pandoras Datenbank gespeichert ist. Auf Basis dieses Expertenwissens ermittelt Pandora, welche Songs zueinander passen. „Im Grunde ist es eine systematische Klassifizierung von Musik. Wir erfassen alle Details, die der Musik Sound und Stil verleihen. Jeder Song wird nach über 400 Kriterien auf seine ganz besonderen musikalischen Eigenschaften analysiert. Wir erfassen alles: von Melodie, Harmonie, Rhythmus, über Form und Inhalt bis hin zu kompositorischen Qualitäten“, beschreibt der ausgebildete Jazzpianist Westergren die Methode, die etwas Kulinarisches habe: „Anstatt selber zu kochen, versuchen wir, die Gewürze, Zutaten und Saucen einer Lieblingsspeise herauszufinden und Alternativen vorzuschlagen“.
In etwa 150.000 Arbeitsstunden bewältigte Pandoras Team aus Profimusikern und Programmierern die größte musikwissenschaftliche Analyse, die es jemals gab. „Die größte Herausforderung war dabei, das Analyseverfahren objektiv und quantifizierbar zu machen“, sagt Nolan Gasser, Pandoras Chefanalytiker. Über 300.000 Songs von 12.000 Künstlern haben Westergrens „Musikologen“ analysiert – etwa 1.000-mal mehr, als viele kommerzielle Radiostationen überhaupt im Programm haben. Hätte Westergren alle Songs selbst analysieren wollen, wäre er in etwa 80 Jahren damit fertig.
Der Bestand der Datenbank umfasst gut 100 Jahre englischsprachiger Musikgeschichte. Pandoras Repertoire enthält Pop, Rock, Jazz, Elektronik, Country, Blues, HipHop, Neues und Altes, Bekanntes und Unbekanntes. An Klassik und Weltmusik haben sich die Musikexperten bislang noch nicht herangetraut. Dafür wird derzeit am „Erbgut“ von Latino- und europäischer Musik gearbeitet.
„Die Musikindustrie ist in einem totalen Wandel“, sagt Pandora-Präsident Joe Kennedy und reflektiert damit eine Tatsache, die offenbar noch immer nicht richtig bis in den Chefetagen der großen Plattenlabels vorgedrungen ist. Pandoras Musikempfehlungs-Software ist ein Beispiel dafür, wie man mit einer Vision, Leidenschaft und Können zukunftsweisende Geschäftsmodelle für Musik im Internet entwickelt. So viel Kreativität müsste die selbstgefälligen „Majors“ – die vier Welt beherrschenden Musikkonzerne Universal, Sony-BMG, EMI und Warner – eigentlich vor Scham im Boden versinken lassen. Doch stattdessen jammern diese alten Pfründen hinterher, während die technologische Entwicklung immer wieder an ihnen vorbeirauscht. Alles, was sie dem Paradigmenwechsel – der Digitalisierung von Musik und dem globalen Informationsaustausch über das Internet – bisher entgegengesetzt haben, waren im Wesentlichen die Kriminalisierung der Nutzer und die Restriktion des Musikkonsums durch oft dilettantische und gesetzwidrige Methoden des Kopierschutzes. Keines von beidem hat funktioniert. Im Gegenteil. Die Versuche, digitalisierte Musik durch technische Verfahren vor unberechtigtem Zugriff zu schützen, hat sich als Sackgasse erwiesen.
Stattdessen eskaliert die Darbietung der großen Plattenlabel zu einem Rückzugsgefecht voll Peinlichkeiten. Erst in dieser Woche musste Sony-BMG fünf Millionen ausgelieferte CDs mit dem neuen Kopierschutz „XCP“ mit „tiefstem Bedauern“ vom Markt nehmen. Antivirenspezialisten hatten Alarm geschlagen: Die XCP-Software verhalte sich auf einem PC wie ein Computervirus. Er versteckt sich tief im Betriebssystem, gefährdet die Stabilität des Computers, lässt sich nicht ordentlich entfernen und spioniert unbemerkt Daten des Nutzers aus, die er über das Internet an Sony BMG schickt.
Aber auch im Onlinebereich ist die Musikindustrie verunsichert, seitdem der branchenfremde Apple-Chef Steven Jobs mit iTunes den Majors ihr Unvermögen bewies, erfolgreich Musik über das Internet zu verkaufen. Heute beherrscht iTunes 70 Prozent des US-Markts für Musikdownloads. In Deutschland gleicht die Antwort der Musikindustrie auf das Internet einer Pannenserie. Erst im vergangenen Jahr musste die deutsche Musikindustrie ihren ebenso prestigeträchtigen wie erfolglosen Downloaddienst „phonoline.de“ abschalten und sich anschließend vom Handynetzbetreiber T-Mobile zeigen lassen, wie der mit „musicload.de“ gewinnbringend Onlinemusik unters Volk bringt.
Dabei ist das Geschäft nicht leicht. Eine neue repräsentative Studie der TU Darmstadt zeigt, dass die meisten Kunden die heutigen Preise für Musik aus dem Internet für viel zu hoch halten: Nur 4,6 Prozent der Befragten würden die aktuellen Preisen von 1 bis 1,49 Euro für einen aktuellen Hit bezahlen. Die Schmerzgrenze der meisten Konsumenten liegt bei 50 Cent.
Ist es ein Vorzeichen, wenn in den USA die Börsenanalysten bereits mit Schrecken eine deutliche Stagnation der Musikdownloads verkünden? Wenn es schon nichts zu punkten gibt, dann verschwenden die Majors ihre Energie offenbar lieber mit Beißattacken gegen die Kundschaft. Wie sonst sollte man erklären, dass erst in dieser Woche der Weltverband der Musikindustrie (IFPI) eine neue Klagewelle gegen 2.100 „File-Sharer“ in 16 Ländern gestartet hat. Die Klagen richten sich gegen Nutzer so genannter Tauschbörsen, die für viele Internetnutzer eine beliebte Beschaffungsquelle für Musik, Filme und andere Medien sind. Gesteuert durch eine so genannte Peer-to-Peer-Tauschsoftware („von Gleichem zu Gleichem“), werden die Computer von Millionen Nutzern virtuell miteinander verbunden und die Medien auf den jeweiligen Festplatten zum Tausch freigegeben.
Mit Tauschnetzen lassen sich digitale Medien ohne Qualitätsverlust unbegrenzt reproduzieren und weltweit kostengünstig verteilen. Das Konzept erfreut sich regen Zuspruchs. In den Stoßzeiten verursachen Tauschnetze schon jetzt bis zu 80 Prozent des gesamten Datenverkehrs im Internet.
Doch die Prozesswelle des IFPI ist ein Kampf gegen Windmühlen, denn der Geist ist längst aus der Flasche. Die Musikindustrie mag einzelne Tauschnetze wie Kazaa, Grokster oder eDonkey hundertmal für tot erklären. Solange das Internet seine offene Struktur besitzt, werden sich die Peer-to-Peer-Netzwerke nicht ausmerzen lassen.
Der Ausgang dieses Ringens zwischen Medienindustrie und Nutzern ist offen. Die technischen und ökonomischen Vorteile von Internettauschnetzen führen auch bei den Medienproduzenten zu einem Umdenken. Die britische BBC kündigte an, ihre Fernsehprogramme über Tauschnetzwerke zu verbreiten. Auch T-Online wird ein legales Tauschnetzwerk für Musik einführen. Bis es so weit ist, kann sich jeder bei pandora.com einen Titel für die großen Musikkonzerne wünschen – vielleicht einen Trauermarsch?