piwik no script img

Archiv-Artikel

Mit einer Stimme sprechen

Wien, Weimar, Stuttgart und immer wieder Dresden – ein längst überholt geglaubtes dramatisches Mittel feiert gerade bundesweit eine Renaissance: der Theaterchor. Soll Volkes Stimme wieder auftreten oder gar kollektives Bewusstsein formuliert werden? Doch gibt es auch Probleme beim Wir-Sagen

VON ROBERT HODONYI

Beim chorischen Sprechen, Brüllen und Stampfen als Massenspektakel auf der Bühne handelt es sich, so könnte man meinen, um ein dionysisches Relikt aus vormodernen Zeiten, um eine kultische Archaik des Wir-Sagens, die fast zwangsläufig zur Achillesferse zeitgenössischer Klassikeraufführungen werden muss. Doch einiges deutet darauf hin, dass es eine Renaissance der Vielstimmigkeit und eine Wiederkehr des kollektiven Körpers im Zuge neuerer (reformistischer) Politisierungsversuche in zeitgenössischen dramatischen Produktionen gibt. Sebastian Nübling inszenierte Elfriede Jelineks „Das Werk“ mit einem Chor in Wien, Stephan Märki ließ in Weimar in der „Maria Stuart“ alle Rollen bis auf Maria und Elisabeth von einem Chor sprechen, Stuttgart setzt ein Projekt mit verschiedenen Chören auf das Programm, und in Dresden tritt jetzt in der „Lysistrata“ zum dritten Mal ein Laienchor an.

Nachdem insbesondere der 2001 verstorbene Theaterregisseur Einar Schleef chorische Formen eingesetzt hatte, um eine nicht ganz unproblematische „Besinnung auf die einfachen Urelemente“, wie der Theaterhistoriker Hans-Thies Lehmann schreibt, des Spiels zu forcieren, hat sich im Staatsschauspiel Dresden in den vergangenen beiden Jahren unter der Leitung des Schleef-Schülers Bernd Freytag ein Laiensprechchor etabliert, der in der „Orestie“, in den „Webern“ des Regisseurs Volker Lösch und jüngst in der antiken Komödie „Lysistrata“ nach Aristophanes zum gleichberechtigten Handlungsträger avancierte.

Wie ist diese Wiederkehr des Chors zu deuten? Ist sie als Zeichen eines Strukturwandels der Öffentlichkeit zu lesen, in dem sich die Bühne mehr und mehr zum Kompensationsraum und zur exterritorialen Topografie einer verloren gegangen politischen Artikulationssphäre verdichtet, ohne jedoch, dass dieser Verlust überhaupt ausreichend reflektiert würde? In Analogie zur attischen Polis, für die „der Chor nur eine Art räumliche Verlängerung war“ (Roland Barthes), wird der Sprechraum des 33-köpfigen Bürger-Chores in Dresden gern als „Volkes Stimme“ apostrophiert, als wortwörtlicher Verstärker städtischer Befindlichkeiten bezeichnet oder gleich ganz als Träger „kollektiven Bewusstseins“ (Volker Lösch) der Stadt verstanden. Doch Dresden ist nicht Athen.

Dem Chor als Resonanzboden für identitätspolitische Zuschreibungen hatte schon Friedrich Schiller in seiner chorkritischen Vorrede zur „Braut von Messina“ den Boden entzogen, in dem er ihn nur noch als reines „Kunstorgan“ anerkannte, denn „der neuere Dichter findet den Chor nicht mehr in der Natur“. War der Chor in der Antike sichtbarer Ausdruck religiöser Bindung und politischer Gemeinschaft, so gehen heute Charaktere in den Chor ein, welche weder mentalitätsgeschichtlich noch politisch auf einen Nenner zu bringen sind, die aber dennoch mit einer Stimme sprechen sowie nach außen ein Kollektiv repräsentieren.

„Bei uns ist alles dabei. Vom Hilfsarbeiter bis zum Promovierten, von der jungen Studentin bis zur Rentnerin. Menschen, die sich sonst nie kennen lernen würden“, sagt die gelernte Buchhändlerin Christine Hrzan, 57, eine der Dresdner Choristinnen. Wenn man den Chor in diesem Sinne auch als milieuüberschreitende und gemeinschaftliche Kunstform im System Theater begreift, wäre zumindest die Frage aufzuwerfen, unter welchen Bedingungen er funktioniert und wie seine Binnenstruktur und Spielpraxis organisiert ist. Denn gerade im Chor manifestiert sich das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in besonders zugespitzter Form: „Ich hätte manche Frage nicht so beantwortet, ich hätte nicht so aggressiv argumentiert, es waren nicht meine Worte und ich hätte mir mehr Diplomatie gewünscht“, sagt Hrzan zum Beispiel im Rückblick auf die politisch und juristisch umstrittenen autobiografischen Fragmente der Weber-Inszenierung Volker Löschs, die sich bis zur populistischen Politikerbeschimpfung hochtrieb.

Bernd Oppermann, 63, ebenfalls Laiendarsteller, beschreibt die Entwicklung des Chor fast als eine Form der ästhetischen Auflösung: „In der ‚Orestie‘ haben wir noch sehr im Block gestanden, bei den ‚Webern‘ waren wir schon mehr in Gruppen aufgeteilt, und nun in der ‚Lysistrata‘ wird der Chor stark aufgezogen, was eine noch höhere Konzentration für das synchrone Sprechen erfordert.“

Diese Auffächerung des Chors in der „Lysistrata“, besonders des Frauenchors, ermöglicht aber gleichzeitig das leuchtspurhafte Heraus- und Hervortreten einzelner Choristinnen und Choristen. Immer dann aber, wenn der Geschlechterkampf im Stück vom verbalen Schlagabtausch zur körperlichen Attacke übergeht, zieht sich der Frauenchor zur Verteidigung zusammen und stellt so eine Art Schutzraum dar, dem die wütenden Männer nichts anhaben können. Einen solchen Chor kann man schwerlich als formiertes Kollektiv oder dressierte Formation bezeichnen. Die allerdings sehr klamaukige Inszenierung der „Lysistrata“ in der Regie von Stephan Suscke mit ihren Slapstick-Einlagen und Schenkelklopfern verhindert das, was die große Herausforderung bei der Aufführung antiker Stoffe auch sein könnte: die Erzeugung eines Gefühls absoluter Alterität. Doch so eine Möglichkeit, sich im Anderen zu spiegeln, vermisst man in Dresden vollständig.