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Archiv-Artikel

„Die Gewalt zeigt das Versagen der Linken“

Der Aufstand der Migranten-Kids in Frankreich ist mit dem Ausnahmezustand nicht zu bekämpfen.Die Gesellschaft, so der Soziologe Michel Pialoux, muss ihnen mehr als nur den Gang zum Arbeitsamt anbieten

taz: In Frankreich hat es seit Jahren immer wieder lokale Unruhen in Vorstädten gegeben. Nun haben sie sich über das ganze Land ausgebreitet. Warum?

Michel Pialoux: Es gibt eine strukturelle Unsicherheit, die sich seit 30 Jahren entwickelt. Die Vorstädte sind Pulverfässer.

War das schon so, als sie in den 60er-Jahren entstanden?

Nein, damals waren die „neuen Ensembles“ das Beste, was der Urbanismus zu bieten hatte. Es gab eine Wohnungskrise. Hinzu kam die Ankunft von mehr als einer Million Rückkehrern aus den Kolonien. Die Mittelschicht – Lehrer und Facharbeiter – zog gern in die Vorstädte.

Was hat zu dem Niedergang der Vorstädte geführt?

Die Mittelschichtler und die Facharbeiter sind mit der Zeit weggezogen. Viele haben eigene Häuser gekauft. Statt ihrer sind Arbeiter nachgezogen. Darunter Einwanderer. Und Familien mit vielen Kindern. Gleichzeitig hat die Arbeitslosigkeit zugenommen sowie die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Die Bewohner konnten ihre Miete oft nicht zahlen. Die Gebäude verkamen. Heute sind dort Leute mit ähnlicher Sozialcharakteristik zusammengepfercht.

Warum haben die Politiker nichts getan?

In Frankreich ist die besitzende Klassen, aber auch die politische Klasse, besonders blind. Seit Anfang der 80er-Jahre hat sich die Lage der Arbeiterklasse in Frankreich – nicht nur der Einwanderer – verschlechtert. Die Arbeit ist intensiver geworden, die Löhne sind niedriger.

Beides sind aber europäische Phänomene.

In Frankreich sind sie stärker. Der durchschnittliche Arbeiterlohn ist seit 1980 gleich geblieben oder zurückgegangen. In Deutschland sind derweil die Löhne der Arbeiter in der Automobilindustrie, die viele Einwanderer beschäftigt, hoch geblieben. Die Löhne der Arbeiter bei Mercedes sind doppelt so hoch wie bei Peugeot.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem 21. April 2002, als ein Rechtsextremer in die Stichwahl um das Amt des Präsidenten kam, und den Unruhen in den Vorstädten?

Die Arbeiterklasse in Frankreich, inklusive der Familien aus der Einwanderung, wählt traditionell links. Im April 2002 haben nur zwölf Prozent der Arbeiter Jospin gewählt. Viele andere haben Le Pen oder gar nicht gewählt. Seither stehen Unsicherheit und Angst im Vordergrund – mit Einwanderern im Zentrum.

Sie verlangen mehr Staat, mehr öffentliche Gelder für die Vorstädte. Die EU schlägt exakt den umgekehrten Weg vor.

Kurz- und mittelfristig kommen wir ohne öffentliches Geld für diese Viertel nicht aus. Schon gar nicht in der gegenwärtigen Konjunktur. Der Staat muss Impulse geben.

Woher soll das Geld kommen?

In Frankreich gibt es soziale Kategorien, denen es sehr gut geht. Man muss nur die Höhenflüge bei den Immobilienpreisen anschauen. Gezielte Steuererhöhungen machen da Sinn. Gewisse soziale Gruppen müssen finanzielle Anstrengungen machen.

Hätte es auch unter einer linken Regierung zu solchen Unruhen kommen können?

Es hat auch zu Jospins Regierungszeit Unruhen gegeben.

Die waren aber kleiner.

Raffarin und de Villepin, und insbesondere Innenminister Sarkozy, haben das eskaliert. Sie haben die ABM-Programme für Jugendliche – die emplois jeunes – abgeschafft, in denen viele Leute mit Einwanderungshintergrund arbeiteten. Sarkozy hat die Nachbarschaftspolizei abgeschafft und durch Polizisten ersetzt, die viel aggressiver sind und keine Ahnung von den Quartieren haben. Die Mittel für humanitäre und kulturelle Vereinigungen in den Vorstädten sind radikal gekürzt worden. Wenn die Jugendhäuser zumachen, hat das irgendwann Folgen.

Die Akteure der Unruhen sind extrem jung – vielfach unter 14 und 15 Jahren. Warum?

Das war auch schon bei früheren gewalttätigen Unruhen so. Die Jungen kommen aus großen Familien. Sie sind zwar noch nicht selbst mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Aber sie sehen die Probleme ihrer großen Geschwister. Dass sie trotz manchmal guter Schulabschlüsse keine Arbeit finden. Für diese Jungen ist Frankreich undankbar. Das Land hat ihnen die Staatsangehörigkeit gegeben, aber nicht das Leben, das sie erwarteten.

Ist das eine Armutsrevolte? Oder eher eine Revolte von Jungen, die so von den Werten der Republik überzeugt sind, dass sie jetzt die Integration für sich selbst gewaltsam einklagen?

Beides. Es gibt einen Graben zwischen dem, was man den Einwanderern versprochen hat, und dem Elend, in dem viele leben.

Gibt es Parallelen in der Geschichte?

Das erinnert an Unruhen in Ghettos der USA und in England in den 80er- und 90er-Jahren.

In Frankreich rufen die Jungen den Staat um Hilfe. Das ist in den USA anders.

Es gibt in solchen Unruhen keine Sprecher. Aber wenn die Jungen etwas erklären, dann, dass sie genug haben von den Diskriminierungen, davon, keine Arbeit und Zukunft zu haben und voller Verachtung betrachtet zu werden.

Wo ist überhaupt die Linke in diesem Konflikt? Warum gibt es keinen Versuch, diese Aufstände zu politisieren?

Das ist eine lange Geschichte. Die Linke hat eine extrem zaghafte Politik gegenüber den Einwanderern betrieben. In den 80er-Jahren hat Mitterrand ihnen viele leere Versprechungen gemacht. Das empfinden die Jungen als Verrat. Sie haben das Gefühl, rechts ist wie links.

Spielen muslimische Religiöse eine Rolle bei den Unruhen?

Es gibt keine organisierte politische Bewegung. Aber die Religion ist stellenweise sehr präsent. Der Einfluss der „Bärtigen“ hat zugenommen. Darunter sind viele Junge, die in der Schule erfolgreich waren und das Abitur geschafft haben, die aber dann bei ihrem Einstieg in den Arbeitsmarkt gescheitert sind. Danach haben sie sich einem traditionalistischen und rigoristischen Islam zugewandt.

Warum beteiligen sich keine Mädchen an den Unruhen?

Mädchen aus dem Einwanderermilieu sind in der Schule und beim Einstieg in die Arbeit erfolgreicher. Die männliche Arbeitslosigkeit ist höher. Das nährt die Verzweiflung und zugleich den Machismo der Jungen in der Vorstadt. Hinzu kommt, dass die Kultur der Straße etwas typisch Männliches ist.

Frauen sind die ersten Opfer, wenn das Zusammenleben verroht. Gerade in den Vorstädten. Trotzdem gibt es nur wenige Frauen, die den wütenden Jungen „Stopp!“ sagen.

Man sieht Mütter, die an Demonstrationen gegen Gewalt teilnehmen. Aber sie sind in einer komplizierten Situation. Einerseits sind sie solidarisch mit den Jungen und verstehen sie. Andererseits kämpfen sie ihrerseits gegen deren Machismo.

Ist die von der Regierung verhängte Ausgangssperre die richtige Antwort?

Nein, diese Konzentration der Regierung auf die Wiederherstellung der Ordnung wird für neue Zuspitzungen sorgen.

Was muss denn geschehen?

In manchen Quartieren gibt es über 50 Prozent Arbeitslosigkeit. Und die prekären Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu. Man kann die Jugendlichen in den Vorstädten nicht ewig als Lückenbüßer behandeln. Man muss ihnen etwas anderes bieten als das Arbeitsamt.

INTERVIEW: DOROTHEA HAHN