: Besuch in der Kampfzone
Nie war es in der Pariser Banlieue so sicher wie heute. Europa mag vom Jihad träumen, vor Ort stellt sich die Lage anders dar: Es ist ein Krawall, dessen Protagonisten so politisch bewusst sind, wie sie ohne Programm oder Anführer auskommen
VON SEBASTIAN LÜTGERT
In Deutschland, so Lenin, kauft sich der Revolutionär eine Bahnsteigkarte. In Frankreich dagegen sind selbst die Revolutionstouristen ohne Metro-Ticket unterwegs. Das macht es schwierig, in Aulnay-sous-Bois – zwanzig Zugminuten nordöstlich von Paris, zwischen den Flughäfen Le Bourget und Charles de Gaulle gelegen – überhaupt aus dem Bahnhof herauszukommen: Zwei von drei Ausgängen nämlich werden von der Gendarmerie belagert. Am dritten finden sich dann aber schnell ein paar hilfsbereite Jugendliche, die den Sonntagsausflüglern durch die Absperrgitter helfen. „Sie befinden sich hier“ steht genau in der Mitte des Stadtplans.
Die miesen Viertel befinden sich im Norden: großflächig grauschraffierte Zonen zwischen Autobahnzubringern und Grünanlagen. Der Weg dorthin führt vorbei an dünnen Bäumen, dummen Schulen, sinnlosen Verkehrsinseln und Bushaltestellen, an denen am Wochenende kein Bus mehr hält. Hinter dem Kulturzentrum „Jacques Prevert“, dessen subtil sadistische Festungsarchitektur sich aus dem letzten Neuanstrich schält, sind die ersten drei Hochhäuser auszumachen. Von dort aus nochmal drei Hochhäuser, dazwischen ein weiteres Kulturzentrum, vor dem gerade eine Kolonne von Polizeifahrzeugen einparkt. Die Einsatzkräfte der CRS tragen schon nachmittags Helme und Schilde. Erste Verkehrsdelikte sind zu beobachten: Ein ohnehin schon quietschender Kleinwagen wendet mit quietschenden Reifen, ein Zehnjähriger braust auf einem Motorrad vorbei. Ein paar Tage zuvor in Bobigny bretterte ein Jugendlicher auf einem Beach Buggy mit einer derart irren Geschwindigkeit die Straßenbahnschienen der Lenin-Allee hinunter, als habe er mit den Problemen der Banlieue bereits abgeschlossen.
Im Grunde ist es erstaunlich, dass nicht mehr Schaulustige aus Paris im Nordosten der Stadt unterwegs sind, auf der Flucht vor der Medienerzählung vom Bürgerkrieg in den Vorstädten, die seit nunmehr zehn Tagen andauert. Der Aufstand wird nicht ewig weitergehen; bisweilen kann man den Eindruck haben, allein die Rede der Experten, die aus allen Kanälen schallt, könne ausreichen, ihn zu ersticken. So neu die Ausmaße der Krawalle seien, so alt seien ihre Ursachen. Seit im Ausland der Eindruck entsteht, halb Paris stehe in Flammen, wird meist noch hinzugefügt, Frankreich sei weder ein besonders gefährliches noch ein besonders rassistisches Land. Dass beides gelogen ist, weiß jeder, der in Paris lebt, aus eigener Anschauung.
Dass es gleichgültig ist, was das Fernsehen behauptet, weiß allerdings auch jeder, dienen die Analysen, Nah- und Ferndiagnosen doch vor allem dazu, das stille Erstaunen zu übertönen, das ganz Frankreich seit dem Ausbruch der Unruhen erfasst hat. Was unerklärlich ist, sind nicht die Krawalle, sondern ihr jahrelanges Ausbleiben – und nicht einmal den reaktionärsten Kommentatoren gelingt es, diesen ersten Eindruck völlig zum Verschwinden zu bringen.
Sozialer Fahrstuhl kaputt
Hinter der Hochhaussiedlung von Aulnay-sous-Bois stand noch bis vor drei Tagen eine Renault-Filiale; viel ist nicht mehr übrig. Wer von der geborstenen Mauer aus einen Blick unter das beim Brand des Gebäudes eingestürzte Parkdeck wirft, kann sich mit einem Mal vorstellen, wie die 30.000 Autos zusammenkommen, die in Frankreich seit Anfang des Jahres bei Ausschreitungen zerstört worden sind. Allein hier sind es mehr als fünfzig.
Gleich an drei Stellen hat die Feuerwehr mit leuchtend gelber Farbe „Danger!“ auf die Mauern der Brandruine gesprüht. Erstaunlicherweise sind diese Warnhinweise die einzigen Graffiti, die in ganz Aulnay-sous-Bois zu sehen sind. Wer sich genauer umsieht, stellt zudem fest, dass es in der Umgebung der Sozialbauten nicht ein einziges Werbeplakat gibt. Artikulationen von Jugendkultur, die über die Affinität zu Hiphop hinausgingen – was hier eher eine bestimmte Art, in der Gegend herumzustehen, als ein Kleidungsstil oder eine Musikrichtung ist –, kann man lange suchen. „Keine Avantgarde auf dem langen Marsch“, bemängelt der Spiegel, „kein Sartre, kein Cohn-Bendit hakt sich in der ersten Reihe unter.“ Was das Bürgertum an den Krawallen am meisten verunsichert, ist, dass es sich um einen Aufstand ganz ohne Zeichen handelt, ohne Parolen, Programme oder Anführer, die sich von der Regierung verbieten und vertreiben oder von den Gewerkschaften vereinnahmen und abwürgen ließen.
Auf eine bestimmte Art in der Gegend herumzustehen, reicht völlig aus, überall zwischen den Wohnblocks kleinere Gruppen von Jugendlichen, die diskutieren oder nur neugierig schauen, dazwischen auch einige Frührentner der ungefähr zwanzigsten Einwanderergeneration; ein Gespräch ergibt sich schnell. In den letzten zwei Nächten sei es ruhig geblieben, heute allerdings habe eine vorbeifahrende Bullenstreife plötzlich Gummigeschosse abgefeuert. Einen Vierzehnjährigen hätten sie verfolgt und mitgenommen. Der hätte zuvor mit dem Handy fotografiert, wie die Bullen ihnen den Stinkefinger gezeigt hätten. Dass es deshalb heute Nacht wieder losginge, sei völlig klar. Völlig klar, dass es nicht aufhöre, bevor Innenminister Sarkozy politisch erledigt sei. Was wir denn hier vorhätten.
Auf einem Parkplatz im Hintergrund interviewt das slowenische Fernsehen eine italienische Touristin. „Doesn’t matter where you’re from, just tell me what you’ve seen.“ Dann trifft, auf der anderen Straßenseite, ein Team von France 2 ein und zieht für eine Weile die Aufmerksamkeit auf sich. Die permanente Medienpräsenz hat längst eine Rückkopplungsschleife entstehen lassen: Sechzehnjährige, die eben noch ziemlich scharfsinnig den Unterschied zwischen Le Pen und Berlusconi erklärt haben, geben mit einem Mal soziologische Selbstbeschreibungen zum Besten, die wörtlich aus dem Bestseller „Der soziale Fahrstuhl war kaputt, deshalb habe ich die Treppe genommen“ stammen, dessen Autor Aziz Senni, mittelständischer Unternehmer und Musterimmigrant, seit Tagen von den nationalen Radiostationen gefeaturet wird. Als das Fernsehen wieder weg ist, zieht jemand seinen Kumpel an Kapuze herbei: „Hier, das ist einer, der Sachen anzündet!“ – „Ja“, grinst der, „aber nur bei mir zu Hause.“ Dann springt er in ein Auto. „Wo fährst du denn hin?“ – „Na, zu mir nach Hause.“
Religion ist kein Thema
Es gehört nicht viel dazu, einen Eindruck von der Stimmungslage in Aulnay-sous-Bois zu bekommen. Fast alle hier argumentieren in einem unmittelbaren Sinne politisch – gegen Rassismus, die Bullen, die Regierung –, wissen aber auch, dass es in den weniger „sensiblen“ Vierteln nicht weniger beschissen ist. Religion ist kein großes Thema, „Identität“ ziemlich relativ, und die Organisationsfrage hat sich noch niemand gestellt. Es sieht so aus, als ließe sich hier weniger das Scheitern von „Multikultur“ oder „Integration“ als vielmehr deren vorübergehendes Gelingen studieren. Ziel und Ausgang der Auseinandersetzung sind weit offen; in welche Richtung sich die Proteste entwickeln, dürfte sich eher durch zufällige Ereignisse entscheiden. Mittlerweile vermelden die Medien den ersten Toten der Krawalle. Vergleicht man das mit den in der Pariser Banlieue sonst üblichen Gewaltopfern, ist das recht harmlos. Normalerweise ist dies keine Gegend, in der man unbesorgt spazieren gehen würde. An jedem anderen Wochenende könnte man Reisewarnungen ausgeben; nur zurzeit müsste man eher Empfehlungen aussprechen.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit gilt es, den Bahnhof von Aulnay-sous-Bois wiederzufinden. Die Hochhaussiedlungen verschwinden in der Abenddämmerung. Über der Satellitenschüssel auf dem Truck des holländischen Fernsehens geht eine schmale Mondsichel auf, daneben kommt die Venus zum Vorschein, und unter diesem bei genauerer Betrachtung ziemlich idiotischen Sternbild beginnt die elfte Nacht, in der Europa vom Jihad in den Vorstädten träumt. „Ein bisschen wie Bagdad“, titelt die FAZ, „Jede Nacht Bagdad“ die Süddeutsche.
Auf dem Rückweg umsteigen in Saint-Denis, wozu es ein weiteres Mal der Hilfe freundlicher Einheimischer bedarf, und zurück nach Paris, wo das vermeintliche Glück der Bevölkerung von den Auslandskorrespondenten am Verbreitungsgrad der weißen iPod-Ohrstöpsel und am Rückgang des Zigarettenrauchens gemessen wird. „Paris bemüht sich um Normalität“, meldet der Spiegel, „die Chaoten rücken aufs Zentrum vor“, „Touristen bummeln am Place Pigalle“, irgendwo habe es bereits gebrannt, und ganz in der Nähe liege Heinrich Heine begraben. Doch auch intra muros, im Innern von Paris, ist die Lage, genau genommen, hoffnungslos. Kapitalismus, Stadtplanung und Polizei haben das Land unrevolutionierbar gemacht. Dort, wo es als Ergebnis von dreißig Jahren präventiver Aufstandbekämpfung unbewohnbar geworden ist, wird es jetzt, für kurze Zeit, unregierbar. Unregierbarkeit beginnt, wenn die Läden vor dem Niederbrennen nicht mehr geplündert werden.