: Wirklichkeit wird sichtbar
Gerade die Sinnlosigkeit der Zerstörung dient einem Zweck: dem der eigenen Existenzbehauptung. Die Bilder der brennenden französischen Vororte antworten auf Bilder aus New Orleans und Melilla
VON ISOLDE CHARIM
Paris brennt. Das ist ein bekanntes Bild. Es ist ja die Stadt der Revolution, die Stadt der brennenden Barrikaden. In diesen Tagen scheint sich ein Paradigma der rebellischen Ikonografie zu wiederholen. Und trotzdem ist heute alles anders.
Tatsächlich korrespondieren die Bilder der ausgebrannten Autos und der zerstörten Häuser viel eher mit ganz anderen Bildern, die wir in letzter Zeit gesehen haben, nämlich jenen aus New Orleans und jenen aus Melilla. Innerhalb kürzester Zeit hat die Armut dreimal die Schwelle der Wahrnehmbarkeit überschritten. In New Orleans hat der Hurrican „Kathrina“ die Fassaden weggerissen und eine unglaubliche Armut im Herzen des Kapitalismus freigelegt. Ebenso machen auch die beiden anderen Ereignisse die Armut plötzlich sichtbar. Wir erinnern uns noch deutlich an den Ansturm der Armen aus Afrika. Diese wurden erst „sichtbar“, als ihre Fleischstücke an den Maschendrahtzäunen hingen, mit denen Europa sich gegen sie wehrt. Die Afrikaner aber wollten rein nach Europa, rein in einen Raum der Hoffnung. Und nun erhalten sie gewissermaßen eine Antwort von jenen, die in zweiter oder sogar dritter Generation hier sind. Sie sind zwar hereingekommen in die „Festung“ Europa, ohne aber anzukommen.
Denn hier gibt es zwei Raumordnungen, die nach zwei unterschiedlichen Logiken funktionieren: die Festung mit ihrer militärischen Logik der eindeutigen Grenze und der „paradoxe Raum“, der alle Grenzen aufgelöst hat, in dem die Mitglieder der „Netzwerkgesellschaft“ leben. Diese leben gewissermaßen ohne Grenze. Dieser paradoxe Raum existiert heute nicht nur gleichzeitig, er existiert auch am gleichen Ort wie die so genannte Festung.
Die Kids aus den Banlieus antworten den Afrikanern in Melilla, dass in Europa die Grenze zwischen innen und außen nicht mehr an der Außengrenze verläuft. Dass es nicht reicht, diese zu überwinden, um anzukommen. Mehr noch: dass nur sie vor einer Grenze stehen, die ein Innen von einem Außen trennt, während es für die anderen (also für uns) diese Differenz gar nicht gibt. Sie bewegen sich in einer offenen Welt. Es ist wie in einem Science-Fiction-Film, wo man immer versucht, eine Grenze zu überwinden, nur liegt der Ort, den man sucht, gar nicht jenseits.
Integration ist nun das Zauberwort, das so tut, als sei es der Schlüssel zu einer Grenze, die wir nicht teilen. Aber die Pariser Brandstifter sind integriert in dem formalen Sinn, dass sie mehrheitlich französischen Pässe haben, Französisch sprechen und französische Schulen besucht haben. Sie sind auch kulturell französisch geprägt. Denn sie wurden schon einmal integriert – in den Kolonien. Nun ist das „kolonisierte Ding“ (Frantz Fanon) ins Zentrum übergesiedelt und kann dort nicht ankommen. Wir haben es hier also nicht mit einem Problem zu tun, das durch formale oder rechtliche Integration gelöst werden kann.
Das wird auch deutlich daran, dass Paris nicht anlässlich des Kopftucherlasses gebrannt hat. Also nicht zu jenem Zeitpunkt, als die französischen Muslime sich durch das Verbot, Kopftücher in der Öffentlichkeit zu tragen, in ihren Rechten beschnitten fühlen mussten. Daran sieht man, dass es nicht um einen politischen Kampf im klassischen Sinn geht, es geht nicht um eine Auseinandersetzung, die in der Logik von Macht und Gegenmacht steht.
Deshalb ist der allseits herangezogene Vergleich mit der Intifada nur teilweise zutreffend. Zutreffend ist er dort, wo es um den Auslöser der Eskalation geht: In beiden Fällen hat sich ein Vertreter der Macht einer Übertretung schuldig gemacht. Ob das nun eine geografische ist wie im Fall von Scharons Besuch am Tempelberg oder eine verbale wie bei Sarkozys Ausfällen, macht da keinen Unterschied. In beiden Fällen gab es eine aggressive Infragestellung der identitätsbildenden Koordinaten des Gegners. Deshalb wäre ein Rücktritt Sarkozys nur folgerichtig. Die französische Öffentlichkeit scheint diesbezüglich aber mehrheitlich anderer Meinung zu sein.
Unzutreffend wird der Vergleich aber dort, wo es um die Reaktionen geht. Denn die palästinensische Intifada ist ein politischer Kampf im klassischen Sinn, wo es um Rechte, Staatenbildung etc. geht. Bei den Ereignissen in Paris geht es jedoch eben gerade nicht um solche Forderungen. Hier sollen keine Rechte erkämpft werden, sie wollen nicht „ihre Fesseln loswerden“. Diese Jugendlichen leben in einer Zukunftslosigkeit (die ja nichts anderes als eine Gegenwartslosigkeit ist), die sie bei ihren Ausschreitungen noch mal reproduzieren und ausagieren. Sie kämpfen vielleicht nur um jenes Momentum einer Gegenwart, der ihre Wirklichkeit sichtbar macht: Sie versichern sich, dass sie existieren. Sie haben eine andere Szene eröffnet, in der kein ideologisches Handeln, sondern ein fetischistisches vorherrscht.
Das brennende Paris ist wie ein negativer Potlach. Das waren Feste z. B. von polynesischen Stämmen mit einem rituellen Geschenkaustausch. Höhepunkt war dabei die rein verschwenderische Zerstörung der „Gaben“ (Marcel Mauss), die nicht nur eine Form des sozialen Ausgleichs war und verhinderte, dass die Reichen allzu reich wurden: Die Zerstörung verwandelte den Tausch in einen symbolischen Tausch um soziale Anerkennung. Die letzten Tage waren eine Art negativer Potlach, dem keine Gabe vorausging. Und eben deshalb ist die Antwort darauf eine paradoxe Zerstörung: Sie ist sinnlos, insofern sie kein Mittel ist, um Forderungen zu stellen. Gerade diese Sinnlosigkeit dient aber einem Zweck, dem der eigenen Existenzbehauptung.