: Vollkommen zerrissene Epoche
Mit seinem neuen Roman „Sommergewitter“ hat sich der Schriftsteller Erich Loest dem Geburtstrauma der DDR angenommen, dem 17. Juni 1953. Loest entwickelt seine Chronik einer gescheiterten Revolution aus dem Blickwinkel der Provinz und konstruiert das Psychogramm einer ganzen Generation
von ANSGAR WARNER
Ein Gespenst ging um in der DDR. Je mehr Mai- und Oktoberparaden die SED feierte, desto weniger mochte man das Gespenst beim Namen nennen. Im Sommer 1989 platzte es jedoch aus Stasi-Chef Erich Mielke heraus: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni stattfindet?“, fragte er seine Genossen angesichts der kaum mehr zu kontrollierenden politischen Situation. Tatsächlich fand der 17. Juni nicht noch einmal statt – denn anders als im Sommer 1953 wurden im Herbst 1989 keine Gefängnisse gestürmt, es fielen keine Schüsse, es fuhren keine russischen Panzer. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die SED-Diktatur schließlich durch eine gewaltlose Revolution gestürzt wurde.
Der ostdeutsche Schriftsteller Erich Loest hat diese Erkenntnis in seinem von Frank Beyer verfilmten Wenderoman „Nikolaikirche“ einem Stasi-Offizier in den Mund gelegt: „Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gesang.“ Mehr als zehn Jahre nach dem Erfolg von „Nikolaikirche“ hat sich Loest mit seinem neuen Roman „Sommergewitter“ nun dem Geburtstrauma der DDR zugewandt. Loest entwirft seine Chronik einer gescheiterten Revolution aus dem Blickwinkel der Provinz: Zentraler Schauplatz ist die sächsische Bezirksstadt Halle und das umliegende Industriegebiet. Vom linientreuen Stasi-Offizier über den linkssozialdemokratischen Arbeiter bis zum zwangsenteigneten Mittelständler wird das breite Spektrum unterschiedlicher Reaktionen ausgebreitet, die im Juni 1953 möglich waren.
„Sommergewitter“ ist dabei zugleich ein Blick zurück auf die eigene Biografie, denn der Lebensweg des 79-jährigen Leipzigers ist entscheidend geprägt worden in den Jahren zwischen Stalins Tod, dem Volksaufstand vom 17. Juni und dem Bau der Berliner Mauer. Ähnlich wie sein Kollege Stefan Heym befand sich Loest in den Tagen des Aufstands in der „Hauptstadt der DDR“ und wurde von den Ereignissen völlig überrascht – eine Erfahrung, die die staatlich alimentierten Intellektuellen mit der SED-Führung teilten. Denn etwas völlig Undenkbares war geschehen: Arbeiter und Bauern protestierten gegen die Regierung des Arbeiter-und-Bauernstaats, das Volk bestreikte die volkseigenen Betriebe. Was als Protest gegen Lohnsenkungen und die Verschlechterung der Versorgungslage begonnen hatte, richtete sich bald auch gegen die Verantwortlichen selbst: „Der Spitzbart muss weg!“, schallte es Walter Ulbricht entgegen.
Die Kluft zwischen „Basis“ und „Überbau“ hätte nicht tiefer sein können: Stefan Heym wurde beim Versuch, mit den Demonstranten zu diskutieren, von den Arbeitern verprügelt, und als die sowjetischen Panzer rollten, begrüßte Loest sie, ähnlich wie Brecht, mit sozialistisch erhobener Faust. Immerhin begab sich Loest danach ins „ideologische Handgemenge“ mit den Mächtigen. Er kritisierte nicht nur die Intellektuellen, die „im Elfenbeinturm sitzen und die rote Fahne schwingen“, sondern stellte auch den von Ulbricht eingeschlagenen Weg zum „Aufbau des Sozialismus“ in Frage. Das brachte ihm schließlich Schreibverbot und eine langjährige Haftstrafe in Bautzen.
Etwas ganz anderes war jedoch die Bewertung des Juni-Aufstands. Hier waren sich Loest und seine Kollegen mit den Machthabern einig: Der 17. Juni wurde als ein von westdeutschen Provokateuren gesteuerter konterrevolutionärer Putsch interpretiert. Die zu DDR-Zeiten entstandenen literarischen Reflexionen des Aufstands folgten dieser Linie, doch auch Loest hatte noch Anfang der Achtzigerjahre in seinem autobiografischen Roman „Durch die Erde ein Riss“ die Agentenversion aus Ulbrichts Agitprop-Mottenkiste.
Mit „Sommergewitter“ ist Loest nun deutlich auf die mittlerweile gesamtdeutsche Sichtweise eines originär ostdeutschen Arbeiter- und Volksaufstands eingeschwenkt. Zwar finden sich unter den Romanpersonen Under-Cover-Agenten der aus Westberlin gesteuerten „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, die auf den Einsatzbefehl für den „Tag X“ warten. Doch am 17. Juni erscheinen sie genauso von den Ereignissen überrumpelt wie die SED-Kader. Weitaus interessanter sind andere Aspekte der von Loest gelieferten Detailschilderungen: Bewusstseinsstrom und flashbackartige Erinnerungen der Romanfiguren machen das Zeitgefühl einer in sich zerrissenen Epoche greifbar. Loest konstruiert Psychogramme einer Generation, deren Handeln und Denken von den Gewalterfahrungen der NS-Diktatur ebenso geprägt ist wie von körperlicher und psychischer Auszehrung.
Exemplarisch zeigt sich das an Bruno Pfefferkorn, KP-Kader und MfS-Offizier, der als besonders tragische Figur im Zentrum des Romans steht. Körperlich gezeichnet von langer KZ-Haft, scheint er die Verwerfungen der deutsche Geschichte ähnlich zu verkörpern wie Keetenheuve, der aus dem Exil zurückgekehrte SPD-Bundestagsabgeordnete in Wolfgang Koeppens westdeutschem Nachkriegsroman „Das Treibhaus“. Am Ende von „Sommergewitter“ geht das persönliche Scheitern mit dem endgültigen körperlichen Verfall einher.
Ebenso bezeichnend: Pfefferkorns Gegenpart, ein Sozialdemokrat und Kampfgefährte aus der Zeit der Weimarer Republik, stellt sich im entscheidenden Augenblick auf die Seite die streikenden Arbeiter und flüchtet schließlich über Westberlin in die Bundesrepublik. So wird das Fazit des 17. Juni 1953 aus ostdeutscher Sicht auf westdeutschem Boden am Ufer des Rheins gesprochen: „Bei uns sagen manche: Beim nächsten Mal klappt’s. Darauf werden wir wohl ein paar Jahre warten müssen.“
Bis zum Wendejahr 1989 sollten genauer gesagt noch 36 Jahre vergehen. Als die Mauer fiel, lebte auch Loest bereits seit acht Jahren in der Bundesrepublik.
Erich Loest: „Sommergewitter“. Steidl Verlag, Göttingen 2005. 341 Seiten, 19,90 Euro