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Archiv-Artikel

Die Kunst der Wirklichkeit

Was wir erleben und wie wir davon erzählen, ist immer schon literarisch geformt: Ein Besuch bei der Schriftstellerin Brigitte Kronauer, der morgen der Georg-Büchner-Preis 2005 verliehen wird

VON MAJA RETTIG

„Die Eskimokinder machen das“, sagt Brigitte Kronauer. „Sie erzeugen künstlich Schwindel, indem sie sich ganz schnell drehen und dann in den Schnee fallen lassen, als Rausch, Verwirrung.“ Man sitzt an ihrem Esstisch, das Esszimmer geht ins Wohnzimmer über. Für den Garten ist es zu kühl; die Schreibklause unterm Dach ist sattsam bekannt und schon zum Bild für die Abseitigkeit der spät zu Ehren, nun aber zu den höchsten Ehren gekommenen Autorin geworden – Georg-Büchner-Preis. Mehr hat der deutsche Literaturbetrieb nicht zu vergeben.

Zwei Routen hatte der Hamburger Verkehrsverbund vorgeschlagen, um zu Brigitte Kronauers Haus zu kommen. Entweder mit dem Bus vorbei am Elbe-Einkaufszentrum (EEZ), Endhaltestelle: der Fähranleger Teufelsbrück, von dem aus man ins Alte Land übersetzen kann. Oder mit der S-Bahn zum Botanischen Garten. Damit sind die zentralen Schauplätze von Kronauers Romans „Teufelsbrück“ benannt, alle in Fußnähe ihres Wohnortes und allesamt Hamburger Realorte, die sie in ihrem Liebes- und Zauberroman ins Mythische rückt, in die Möglichkeit des Mythischen. An diesen Schauplätzen ging es also auch vorbei auf dem Weg zu ihr, man sah diese Stätten in ihrer Alltäglichkeit und spürte ihre Namen schillern; ein Schwindelgefühl stellte sich ein.

Dieses Verwandeln der Welt – Brigitte Kronauer macht das nicht, um zu zeigen, wie schal die Realität ist, sondern sie führt uns vor, dass wir unablässig genauso verfahren. Den „lebensnotwendigen Glanz“ der Dinge erzeugt jeder selbst, und auch das Gegenteil, die graue Ordnung. Wie wir erleben und insbesondere wie wir davon erzählen, das ist immer schon literarisch geformt.

Ihre Literatur zielt damit direkt auf die Wirklichkeit – aber nicht im Sinne naiv-realistischen Erzählens, das oft genug nur Klischees bestätigt. Man könnte ihre Literatur als einen Realismus der Weltwahrnehmung bezeichnen. „Dieser Gedanke, wie verhalten sich Wirklichkeit und Literatur zueinander, Literatur im weiteren Sinne, also: Was für Strukturen, was für Ordnungsgesichtspunkte bildet sich jeder bewusst oder unbewusst aus. Das nimmt immer wieder neue Formen an, aber im Kern kann ich alle meine Bücher darauf zurückführen“, sagt Brigitte Kronauer.

Die Ordnung ist das eine, das andere der Schwindel. Ob man sich dafür nun schnell im Schnee dreht oder Leute sich periodisch betrinken: „Man braucht beides, das ist ein ganz praktisches Überlebensprinzip, um nicht verrückt zu werden und um nicht zu verknöchern.“

Brigitte Kronauers konsequent gebaute Texte enthalten zumeist eine Bewegung vom einen zum anderen. Schon in ihrem 1980 erschienenen ersten Roman „Frau Mühlenbeck im Gehäus“ werden zwei Wahrnehmungsweisen kunstvoll kontrastiert: die stark vereinfachende, Erlebnisse pointierende und Muster produzierende der Hausfrau Mühlenbeck, und die diffuse, haltlose der Erzählerin, einer Lehrerin. Auch in ihrem siebten Roman „Verlangen nach Musik und Gebirge“, in diesem Frühjahr erschienen, kann man das ausmachen: Die Beobachterin Frau Fesch setzt sich in ihren Gängen zum Meer in Ostende dieser „anbrausenden Diffusität oder Leere oder Chaotik“ aus, um dann wieder ihre Typisierungen an der Hotelgesellschaft zu betreiben – selbst höchst unbeteiligt und ihr Ich hinter dem Erzählpronomen „man“ versteckend; am Schluss aber erfährt man: liebesentbrannt höchstselbst, darin gerichtet in ihrer halb spöttischen, halb mitfühlenden Beobachtung der verzweifelt verstiegenen, umstürzlerisch verstrickten amourösen Umtriebe.

Die Liebe ist so geeignet für Brigitte Kronauers Zwecke, weil sie wie nichts anderes den Blick verändert und damit die Welt. Die Liebe bietet maximalen Glanz, sie ist „die einzige Realität, an die man wirklich herankommt“, sagt die Beobachterin Fesch. Der Zustand der Liebe sorgt dafür, dass die Erzählerin Maria Fraulob aus „Teufelsbrück“ in einen fantastischen Zauberstrudel gerät – verzaubert im wörtlichen Sinne, vielleicht. Denn Liebe ist auch Ambivalenz und „Zweideutigkeit“ – so der Titel ihres letzten Essaybands – ein wichtiges Strukturprinzip für Brigitte Kronauer. Sie erkennt das Ambivalente als Liebesauslöser – das „gewisse Opalisieren“ erotisiere zuverlässig –, aber auch ihre Faszination für die Künstlichkeit und zugleich Wildheit botanischer Gärten kann sie so erklären.

Man könnte ihre Prosa selbst mit Ambivalenzen zu fassen versuchen: Neben Ordnung und Schwindel wären das, in der Art, wie sie erzählt: Ironie und Menschenfreundlichkeit – eine gewissermaßen kalte Zärtlichkeit für ihre Figuren; Präzision und Sinnlichkeit; Poesie und Witz. Aber Obacht: Das Werk ist komplex und vielfach sind die Bezüge. „Man muss sich jetzt wirklich hüten, dass man die Sachen nicht zu sauber scheitelt“, sagt Brigitte Kronauer, schön und elegant, sehr blond und sehr zierlich, an ihrem Esstisch.

Ist ein Werk, das so gründlich die künstliche Verfasstheit von Wirklichkeit aufzeigt, ist solch ein Werk aus den Fakten einer Biografie erklärbar oder aus der Erscheinung der Autorin? Gut, es ist Autobiografisches eingeflossen in die Lehrperson des ersten Romans – bis 1970 war Brigitte Kronauer Lehrerin und machte dann Ernst mit dem Schreiben, zehn Jahre bevor sich nennenswerte Anerkennung einstellte. Ja, und sie spricht so präzise, wie sie schreibt, hört genau hin und verliert nie den Faden. Und dass sie so viel jünger wirkt, wie kommt das?

Brigitte Kronauer ist 64 und sieht aus wie allenfalls 46. Man kann sie sich nicht als alte Frau vorstellen. Das ist natürlich Glück, Begünstigung durch die Natur, aber auch, denkt man: Offenheit, oder Konzentration, das Fehlen jedenfalls jeder Bequemlichkeit. Diese Autorin hat sich nie breit gemacht, in keiner Welterklärung, in keiner Großautorenrolle. Sie ist das Risiko eingegangen, ihr Schreiben ganz für sich zu entwickeln, ohne zu wissen, ob sich jemals jemand dafür interessieren würde. Das relativiert auch späteres Lob und manche Unausstehlichkeiten des Literaturbetriebs.

Natürlich freut sie der Büchnerpreis, aber nicht so, dass sie ihn längst schon erwartet hätte: „Es stehen einem nicht irgendwelche Preise zu.“ Sie merke ja andererseits „bis auf den heutigen Tag, wie abweichend offenbar von den literarischen Erwartungen meine Literatur ist, und das wird mich vermutlich nie verlassen“.

Ein Mann streift das Blickfeld und geht durch die Verandatür. Es ist entweder der Ehemann oder Dieter Asmus, der Maler. Natürlich, hier wird gelebt, in diesem Haus herrscht die freiheitliche Atmosphäre von drei erwachsenen Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, zwei von ihnen künstlerisch. Kinder gab es nie. Es ist das bescheidenste Haus in der Gegend; drumherum Villen, die sich gewaschen haben. Hier lebt Brigitte Kronauer unerkannt unter anderen Leben. Während der langen Zeit der Resonanzlosigkeit wusste ihre Umgebung nicht einmal, dass sie schrieb, und auch heute trägt sie das nicht vor sich her – die Leute seien dann unbefangener. Sie unterhält sich nämlich lieber mit normalen, also literaturfernen Leuten, der literarischen Muster wegen, die diese unbewusst beim Erzählen verwenden. „Gruppenaufläufe von Schriftstellern meide ich wie die Pest.“

Ihre literarischen Freundschaften sind rar, aber intensiv. Unter den heutigen Deutschsprachigen schätzt sie Eckard Henscheid, Ror Wolf und Martin Mosebach; sie wird nicht müde, sie zu preisen. Wie Mosebach „aus Kleinigkeiten Wirklichkeit erblühen lässt“; in der „funkelnden Modernität“ Ror Wolfs und wie Henscheid Banalität und Musik verbindet – darin erkennt sie auch Verwandtschaft.

Unter den Alten, Internationalen sind es so scheinbar unvereinbare Größen wie der französische Nouveau Roman und Joseph Conrad, die sie tief beeindruckt und beeinflusst haben. Um den Kanon schert sie sich dabei nicht. Sie ist zum Beispiel nicht der Meinung, dass „Herz der Finsternis“ Conrads tollster Wurf ist. „Ein Lächeln des Glücks“ hingegen hält sie für eine stark unterschätzte Erzählung – diese hat sie im letzten Roman in ein Libretto gesetzt.

Solche gelegentlichen Anverwandlungen aus Literatur, Musik oder Malerei sind, das ist ihr wichtig, keine lockeren Spielereien mit Bildungsgut – „so was hat für mich immer gegen die Postmoderne gesprochen“. Dass ihre Bücher abgehoben seien und kalt artifiziell, ist ihr das ärgste Missverständnis ihrer Literatur. Für sie ist Kultur, ebenso wie Natur, etwas Lebensnotwendiges. Ihre formalen Anstrengungen resultieren jedes Mal aus stofflicher Notwendigkeit: „Ich muss an eine Perspektive glauben können. Ich muss in dem Moment wirklich das Gefühl haben, das ist die Wahrheit. Es muss einen durchdringen, es geht nicht anders.“

Momentan schreibt sie an einem Band mit drei längeren Einzelerzählungen. Danach käme wieder ein Roman. Im Dezember wird sie 65 – nichts wäre abwegiger als die Rente.

Die Katze verteilt großzügig Aufmerksamkeit, Dieter Asmus grüßt und muss noch zur Post, als man im Flur den Mantel nimmt und geht.