: Hunger nach einer Klasse
Ein radikal dissidentes Leben: Heute vor 30 Jahren wurde Pier Paolo Pasolini ermordet. Seine Filme entspringen der Einsamkeit des Intellektuellen, der den Verfall seiner Gesellschaft beobachtet
von BERT REBHANDL
Im Mai dieses Jahres brachte Pino Pelosi, der verurteilte Mörder von Pier Paolo Pasolini, die Umstände seiner Tat in der Fernsehsendung „Ombre sul Giallo“ neuerlich ins Zwielicht. Zwar bestritt er nicht, dass er am Tatort war an jenem 2. November 1975, als der italienische Filmemacher am Strand von Ostia auf brutale Weise umgebracht wurde. Aber Pelosi verlieh dem Verdacht neue Nahrung, dass er nicht der Haupttäter war. Drei Männer hätten Pasolini eine Abreibung verpassen wollen, die tödlich endete. So beschäftigen die Rätsel dieser Nacht die italienische Öffentlichkeit bis heute.
Es gibt viele, die hinter dem damaligen Strichjungen Pelosi, der sich später in einem Buch als „schwarzer Engel“ stilisierte und als unzuverlässiger Zeuge gilt, eine Verschwörung der politischen Rechten vermuten. 1975 hatte Pasolini gerade den Film „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ fertig gestellt, eine von Roland Barthes’ Lektüre des Marquis de Sade inspirierte Faschismusparabel. Als Publizist bezog er eine kompromisslose Position gegenüber der Democratia Christiana, deren Repräsentanten er „Amtsunwürdigkeit“ und „Veruntreuung“ vorwarf, aber auch „Zerstörung von Landschaft und Städten Italiens“ und „Verantwortung für die anthropologische Erniedrigung der Italiener“. In einem Land, das sich auf eine technokratische und konsumistische Idee von Fortschritt zu einigen begann, zog Pasolini die Aggression auf sich: „Ich bin ein Neger in einer rassistischen Gesellschaft.“
Während im gegenwärtigen Italien die Politik zum Comedy-Format verkommt, waren die Antagonismen zwischen dem eurokommunistischen Lager und dem katholisch-konservativen Milieu in den Siebzigerjahren noch „lebensgefährlich“ in einem Sinn, den Pasolini ausdrücklich heraufbeschwor – er suchte die Auseinandersetzung so persönlich, dass seine Ermordung durch Pino Pelosi schließlich zu kontingent erschien. Eine mythische Struktur musste diesem Tod zugrunde liegen, der als Vollendung eines radikal dissidenten Lebens erschien: „Jeder Freiwillige, der einen bedeutungsvollen Tod ‚als Exhibitionist‘ sucht, muss es ganz klar darauf anlegen, in die Feuerlinie zu geraten.“ So steht es in seiner Textsammlung „Empirismo Eretico“. Sein Biograf, Enzo Siciliano, schreibt von der Denkmöglichkeit eines „delegierten Selbstmords“.
Wenige Woche vor seinem Tod bildete Pasolini in einem Text selbst eine Klammer um sein Werk. Er dachte über die veränderten Umstände zwischen 1961 und 1975 nach. 1961 kam sein erster Film „Accatone“ in die Kinos: Die Titelfigur ist ein Kleinkrimineller und Zuhälter aus Not und Faulheit. Damals „wusste kein Mensch aus dem Bürgertum konkret, was eigentlich das großstädtische, speziell das römische Subproletariat war und wie es lebte“. 1975, das Jahr, in dem „Accatone“ zum ersten Mal im Fernsehen gesendet wird, „weiß immer noch niemand aus dem Bürgertum konkret, was das Subproletariat damals war und was es heute ist, weiß erst recht niemand. Ich bin daher in der schwierigen Situation, zugleich erklären und diskutieren zu müssen“. Pasolini war zeitlebens auf der Suche nach einer Klasse, deren Vitalität sich gegen den Konformitätsdruck in der Moderne durchsetzen würde.
Weil er dabei ständig neue Besetzungen vornahm und neue plebejische Idole fand, musste er immer zugleich erklären und diskutieren, erzählen und dokumentieren, theoretisieren und werben. Sein politisches Ideal war nicht zuletzt von sexueller Attraktivität geprägt. Das Klassensubjekt einer künftigen Gesellschaft entschied sich für ihn auch daran, ob die Menschen schön sind. „Ich hätte auch nichts dagegen, wenn du ein kleiner Sportler wärst mit flachen Hüften und strammen Beinen (was Sport betrifft, so wärst du mir als Fußballfreund am liebsten, dann könnten wir ab und zu eine Runde spielen)“, schreibt er kurz vor seinem Tod an einen idealtypischen Neapolitaner, den er zum Adressaten eines pädagogischen Traktats macht. Noch wenn er das Evangelium verfilmt, wie in „Il Vangelo Secondo Matteo“, interessiert ihn nicht so sehr der Prophet, sondern das Publikum der Bergpredigt, das er mit einer unruhigen Reportagekamera aufnimmt. Und wenn er in dem Film „La Ricotta“ zeigt, wie ein von Orson Welles gespielter internationaler Filmkünstler die Kreuzigung verfilmt, interessiert ihn vor allem der hungrige Kleindarsteller, der in einer Drehpause so viel Weichkäse isst, dass er später am Kreuz stirbt. Wenn Pasolini in Palästina nach Drehorten für einen Bibelfilm sucht, wie in „Sopraluoghi in Palestina“, dann sucht er nach einer revolutionären Bewegung für die Gegenwart und kehrt enttäuscht zurück, weil er den politischen Konflikt um Israel in seiner biblischen Geschichte nicht erkennt.
Seine Methode der historischen Analogie ist zugleich utopisch und naiv. Das Individuum ist für ihn nur Episode des Fortschritts. Als er in seinem Dokumentarfilm „Comizi d’Amore“ mit jungen Männern über ihre Sexualität spricht, nennt er sie nicht beim Namen, sondern bei dem des Landstrichs, aus dem sie kommen: „Veneto, bist du ein Don Giovanni oder nur ein Don Giovannino?“ Beim Blick auf ein Hochzeitspaar sagt er einen prekären Satz: Er wünscht sich, die jungen Leute hätten nicht nur Liebe, sondern auch Bewusstsein („coscienza“) dieser Liebe. Die Einsamkeit des Intellektuellen, verstärkt durch seine exponierte Homosexualität, kommt in „Comizi d’amore“ beinahe schmerzhaft zum Ausdruck. Pasolini ist eben kein „Gefährte“, auch wenn er in Franco Citti, Ninetto Davoli oder Laura Betti treue Mitstreiter hatte und mit dem geistigen Italien seiner Zeit in regem Austausch stand.
Um Pasolinis Isolation zu verstehen, genügt ein Blick auf die Filmemacher, die wie er nach dem Krieg im Umfeld des Neorealismus begonnen hatten. Fellini war in den Siebzigerjahren bei einem pompösen Surrealismus angekommen. Visconti kam mit seinen verfilmten Faschismustheorien über die ästhetischen Dimensionen nicht hinaus. De Sica war bei hyperaktiver Bedeutungslosigkeit angekommen und starb 1974. Einzig Rossellini hatte mit dem Fernsehen eine neue Idee gefunden, ihm schwebte eine originäre visuelle Pädagogik vor, eine Mischung aus Tele-Enzyklopädie und virtueller Gelehrtenrepublik.
Pasolini war der Einzige, der das Kino selbst zu radikalisieren versuchte. Die zahlreichen publizistischen Projekte, die in dem posthum veröffentlichen Romanfragment „Petrolio“ ihren Höhepunkt erreichten, sind auch als Versuche zu verstehen, die Ambivalenzen des Kinos diskursiv zu überwinden, das „seinem Wesen nach poetisch ist, weil es eine Art der Dichtung ist, die prähistorisch, amorph, unnatürlich ist“. Diesen Überlegungen ist es wohl geschuldet, dass Pasolini mit Vorliebe universale Stoffe verfilmte: Der Mythos von Ödipus in „Edipo Re“ und das Mutterdrama von „Medea“; die Geschichte des Jesus von Nazareth; die „Canterbury Tales“, „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ und das „Decamerone“ in seiner „Trilogie des Lebens“. Diesen letzten Versuch, den „Eros in einem menschlichen Milieu“ darzustellen, widerrief er 1975, weil er begriff, dass die Darstellung der sexuellen Freiheit auf die Seite der Konsumindustrie gewandert war. In „Salò“ blieb vom Sexus die Perversion, und Pasolini zögerte nicht, ihr einen konkreten historischen Ort zuzuweisen. In dieser Aporie des spezifischen Archetypischen liegt der eigentliche Wert seiner Filme – sie zeigen das Drama eines Intellektuellen, der ohnmächtig den Verfall seiner Gesellschaft beobachtet und bei seiner Suche nach neuen Verbündeten immer stärker deterritorialisiert wird.
In „Porcile“ verbinden sich, vor der vulkanischen Landschaft von Sizilien, Anfang und Ende der Zivilisation zu einer unentwirrbaren Antihistorie. In Uganda drehte er nahezu gleichzeitig 1969 „Skizzen zu einer afrikanischen Orestie“. Das griechische Drama von der Überwindung der Rache und ihrer Eingemeindung in die Demokratie erschien ihm als die ideale Vorlage für den Prozess der Entkolonialisierung. Eine brennende Raffinerie ist Troja, die Universität von Daressalam ist der Tempel Apolls (gestiftet von der Volksrepublik China!). Pasolini überwindet den Strukturalismus durch einen Prozess der ständigen Überblendung von Zeiten und Orten. Nicht traurige, euphorische Tropen macht er zu seinem Manifest. Weil er dabei niemals die Seite wechseln konnte, weil er eben kein „Neger“ wurde, sondern immer der italienische Intellektuelle, der schwule Muttersohn aus Casarsa im Friaul blieb, war er auf die Position der „Häresie“ festgelegt.
Sein filmisches Werk, das im November und Dezember im Arsenal in Berlin gezeigt wird, kann als umfassende Suchbewegung verstanden werden, um jene (imaginären und faktischen) Allianzen zu schmieden, die der späte Kapitalismus schon im Entstehen zerstört. In der permanenten Enttäuschung dieser Hoffnungen liegt das, was Pasolini selbst die „mythologisierte Autobiografie“ genannt hat. „Ich hasse Natürlichkeit. Ich rekonstruiere alles.“ Diese Arbeit obliegt nun einer Generation, der Pasolinis Werk selbst schon exotisch zu erscheinen droht.
Das Berliner Arsenal-Kino widmet Pasolini im November und Dezember eine Retrospektive (Programm unter www.fdk-berlin.de); das Gleiche tut der Fernsehsender 3sat ab 5. November