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Archiv-Artikel

„Kapitalismus ist nicht genug“

Der französische Autor und Philosoph Camille de Toledo über die Atemnot in der globalisierten Welt, die Neugewinnung der Unschuld und sein Buch „Goodbye Tristesse“, dem er nun einen Roman über Paris, Texas, und Nastassja Kinski folgen ließ

INTERVIEW JOCHEN FÖRSTER

taz: Herr de Toledo, zu Beginn von „Goodbye Tristesse“ beschreiben Sie die heutige Weltordnung als großzügig, freiheitlich, flexibel, Glück versprechend – zugleich kriegen Sie darin keine Luft. Wo ist das Problem?

Camille de Toledo: Mein Lob ist nur scheinbar, genau wie sein Gegenstand. Das so genannte freiheitlich-demokratische System ist in sich abgeschlossen, sprich ignorant. Seit dem Mauerfall herrscht im Westen die ökonomische Rationalität von Produkt und Service, Merchandising und Konsum. Sie verbreitet sich rasant, dabei ist sie zynisch, hohl und lackiert. Stellen Sie sich vor, Sie sind Christoph Kolumbus und wollen wissen, was am Ende des Meeres ist, und einer kommt und sagt, lass es, wir wissen es schon, es ist auf unserer Karte. Es gibt kein Außerhalb in dieser Ordnung, deshalb haben wir ein Atemproblem.

Ein anderes Problem, das Sie beschreiben, ist die Deterritorialisierung des Verlangens.

Alles ist heute so arrangiert, dass man kauft. Dahinter steht eine sehr eindimensionale Idee des Verlangens – es sei subjektiv und erwerblich. Ich verlange, also kaufe ich. Gilles Deleuze wies schon vor langem darauf hin, dass Verlangen durch dich hindurchfließt. Verlangen ist Flux. Schauen Sie sich Sex im Internet an, DIE heutige Macht der Entkörperlichung des Verlangens. Wichtig wäre, unter den Lesern von Männer- oder Frauenmagazinen ein Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Verlangen uns nicht gehört.

Als weiteres Gegenmittel empfehlen Sie kurioserweise eine Renaissance des Romantischen, allerdings „mit offenen Augen“.

Nicht als Lösung. Ich kommentiere nur einige Phänomene der 90er-Jahre – den Zapatismus, die Antiglobalisierungsbewegung, Genua, Seattle. Die gemeinsame Diagnose lautet: Kapitalismus ist nicht genug. Dies erinnert mich an die Frühromantiker und deren Reaktion auf die Aufklärung. Als die Wissenschaft im 18. Jahrhundert begann, Wirklichkeit zu messen, sagten Deutsche, Engländer, später Franzosen: Wo bleiben die Träume, das Leiden, die Vielfalt? Ist Leben wirklich so langweilig?

In „Goodbye Tristesse“ kommen – abgesehen von Rudolph Giuliani – Symbole der Neuen Ordnung kaum vor, von Ausbeutung und Entschuldung, Irakkrieg und Tobinsteuer ist keine Rede. Sie scheuen die Beschreibung konkreter Politik, stattdessen zitieren Sie E. T. A. Hoffmann oder erzählen schöne Geschichten.

Sie meinen, konkret wie Bono? Oder Naomi Klein? Es ist schwierig, ohne Worthülsen anzuklagen. Klein hat einige wichtige Dinge recherchiert, trotzdem ist ihr Buch langweilig, ihr fehlt Überraschung, Originalität, literarische Ambition. Aber Bono wie Klein tun auch nur ihren Job. Leute, die sagen, die Dinge laufen nicht gut, haben ihre Verdienste, zum Beispiel haben sie auf die Verlagerung der Macht von der Politik zur Finanzwelt, zu WTO und G8 hingewiesen und reagiert. Die Macht ist heute wieder sichtbarer. Mein Problem ist ein anderes: Linkes Gewissen war nicht sehr erfolgreich seit Reagans Zeiten. Viele Alternative in den 90ern haben sich bemüht, von den Medien gehört zu werden, Sprachrohre zu schaffen, Lösungen anzubieten. Darin liegt eine große Dummheit. Wenn du politische Fragen gezielt auf die gängige Diskurskultur einstellst, wird keiner wirklich zuhören.

Sie plädieren, wenn schon nicht für Romantik, für eine neue Unschuld?

Ja. Politisch interessierte Leute haben heute ein Problem: Das Erbe des 20. Jahrhunderts heißt Avantgarde, die entscheidende Frage lautet: Wie kann ich subversiv sein? Zu sagen, dass diese Frage tot ist, abgefrühstückt, erledigt, wäre ein neuer Anfang.

Waren Sie mal in Berlin-Mitte?

Ja, und ich war neulich in Südfrankreich bei einer Ausstellung junger Berliner Maler. Der ganze Gegenkulturschrott war da zu sehen, Graffiti überall, das Repertoire der Auflehnung, die Bilder gingen unter den versammelten superreichen Franzosen weg wie warme Semmeln. Diese Rebellenkünstler, die dann bei Saatchi & Saatchi landen – das ist wirklich lächerlich. Subversiv ist, daran nicht zu denken. Es zählt einfach nicht mehr. Ich scheiße drauf.

Und was dann?

Als Sid Vicious über den Trafalgar Square lief und Hippies anspuckte, dachte er keine Sekunde daran, ob ihn das berühmt machen würde. Er wollte einfach ein blöder, vermurkster Typ sein. Erst mit Malcolm McLaren kam Kalkül ins Spiel – er sagte, ok, von Musik hast du keine Ahnung, aber von nun an wirst du ins Mikro schreien und wir machen eine Haltung daraus. Sid Vicious war wie Kurt Cobain – unschuldig. Dann starb er, wie alle Unschuldigen. Daraus folgt: Mach dein Ding und hör auf, wie ein Werber zu denken. Überlass das anderen.

Um dann viel zu früh abzukratzen. Warum haben Sie das Buch geschrieben? Aus Langeweile?

Eher wollte ich Ordnung bringen in mein Denken, mich von der Familie emanzipieren – und endlich die Subversivität aus meinem Leben verbannen. Viele sind mit 30, 40, 50 noch immer mit dieser Frage beschäftigt. Außerdem glaube ich, wir Kinder der 90er werden nie Gefahr laufen, allzu unschuldig zu sein.

Als bekennender Unschuldiger bieten Sie kein Denksystem, dafür viele hübsche Ausdrücke für Pseudo-Individualismus. Was zum Beispiel ist ein Skeeze?

Einer, der über die eigene Fragmentierung glücklich ist. Ein Interface. Der nichts vermisst, weil nichts in ihm ist.

Ein Massendandy?

Einer, der sich für einzigartig hält, der Poseur des Individuellen, der am meisten verbreitete Individualist der Welt. „Think different“ für alle. Sie sind Sklaven, aber sie merken es nicht. Sie sind die Schlimmsten. Ich bin schuldig, ich war auch mal so.

Wie hat Ihre Familie das Buch aufgenommen?

Die Familie als Ganzes hat es abgelehnt. Mein Opa war kein schlechter Kerl, sein Vermächtnis kommt nun schlecht weg, da wäre ich an ihrer Stelle auch sauer. Aber meine Mutter hat mir verziehen.

Und die Reaktionen der Presse?

Wohlwollend und unangenehm. Alle Texte begannen mit der Geschichte vom Industriellen-Enkel. Etwa einen Monat lang war ich in den Medien, gab Interviews, dann floh ich nach Italien. Vor einem Jahr kam ich zurück nach Paris. Jetzt geht es besser – als jüngst mein erster Roman „L’inversion de Hieronymus Bosch“ erschien, hat niemand meine Herkunft erwähnt. Das hat mir gefallen. Stefan Zweig war ja auch Industriellensohn, aber irgendwann war das dann egal.

Die Medien kommen in „Goodbye Tristesse“ nicht vor, abgesehen von dem Satz, Fernsehen mache dem Volk weis, „Zusehen bedeute Mitmachen.“ Wollen Sie über Medien lieber nicht nachdenken?

Medienrezeption ist auch so eine Angewohnheit, die ich gern loswerden würde. Öffentliche Meinungen werden heute ausschließlich mittels Presse geäußert, weshalb es auch keine Meinung gegen sie geben kann. Medien scheinen zentral zu sein, übermächtig – aber das wirkt nur so. Tatsächlich kann man sie abschalten.

Wäre es nicht besser unabhängige Medien, Anti-Medien-Medien sozusagen zu schaffen?

Ich weiß nicht, ich selbst lese und sehe keine Nachrichten.

Der Unschuld zuliebe?

Um ungestörter zu sein. Kritischere Medien zu fordern, wird wenig ändern. Es ist das System an sich, das permanent abbildet.

Hilft also alles nix, außer selbst abzuschalten und abzuwarten.

Man könnte zum Beispiel hingehen und jedes Mal, wenn man einen Fernseher sieht, so tun, als würde man ihn gleich mit einer spitzen Nadel durchstechen. Man gehe mit der Nadel ganz nah ran, so dass die Leute rufen: Nein, stopp! Es ist ein Meisterwerk!

An einer Stelle Ihres Buches schreiben Sie: „Wir wollen nicht an die Macht. Wir wollen nur in Ruhe gelassen werden.“ Das kann man zynisch nennen.

Die einzige Sache, an die ich wirklich glaube, ist das gute Gespräch. Im Buch kann ich dazu ermuntern. Dass wir gerade sprechen, ist das beste, was mir passieren kann. Mehr kann ich nicht bieten.

Sie sind Authentiker.

Ich verbiete mir, Authentisches zu benennen, das läuft immer darauf hinaus, was Claudio Magris in seinem „Donau“-Buch beschreibt: Er sucht den Ursprung des Flusses, am Ende findet er ihn, auf einer hübschen Wiese mit kleinem Häuschen, er geht rein und was findet er: einen Wasserhahn.

Sie sind Romantiker.

Ich habe Sancho Pansa und Don Quichote in mir, etwas mehr Sancho, wie wir alle. Wir wissen, wir sehen keine Riesen, sondern Mühlen, aber können es uns eine Zeit lang einbilden, denn es fühlt sich gut sein.

Von Subcomandante Marcos zeichnen Sie ein recht romantisches Bild.

Eine großartige Figur, unglaublich war er geleistet hat: Sich um die konkrete Situation in Chiapas zu kümmern, seit 15 Jahren aus dem Dschungel unbeirrbar zu kämpfen und zugleich die Öffentlichkeit mit steter Maskerade zu verunsichern. Ein verzweifelter Ritter und Ironiker zugleich, übrigens hat er immer den „Don Quichotte“ auf seinem Nachttisch liegen. Aber selbst er, der Totalverweigerer, wurde zur Mode gemacht.

Zurück zu Ihrem neuen, ersten Roman. Worum geht es da?

Um Leute, die ihre Haut wieder entdecken, an einem fiktiven Ort namens Paris, Texas, einer Rekreation von Wenders Schauplätzen im Disneylandstil, mit einem Eiffelturm in halber Größe.

Kommt Nastassja Kinski vor, beziehungsweise Jane?

Ja, sie arbeitet noch immer in diesem Striplokal, mittlerweile verkauft sie Tickets für die Kabinen.

Ich liebe die Szene hinter der Glasscheibe, als sie langsam merkt, dass der Mann hinter der Scheibe ihr Mann ist.

Diese Szene war ein Grund, den Roman zu schreiben. In der Zukunftsstadt Paris, Texas, ist alles obszön, exponiert – aber da ist immer etwas, das sich entzieht, etwas Nicht-Abbildbares, Nicht-Repräsentatives, das durch die Scheibe geht. Denn je mehr man ausstellt, desto weniger sieht man.