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Archiv-Artikel

Camembert am Po

Gesundes Neinsagen und stumpfe, empathiefreie Musik: Antonia Ganz porträtiert in ihrem Dokumentarfilm „Wir waren niemals hier“ die Berliner Band Mutter

„Wir sind keine normale Rockband“, das sagt Max Müller, Sänger von Mutter, am Ende des Films. Was sie sonst sein soll, dass weiß diese Band selbst nicht, und sie will es auch gar nicht wissen – so viel wird deutlich in dem Mutter-Filmporträt „Wir waren niemals hier“ von Antonia Ganz, ihrer Abschlussarbeit an der Münchner Filmhochschule, die nun glücklicherweise in die Kinos kommt.

Seit 18 Jahren gibt es Mutter: notorisch erfolglos und dennoch eine Institution, nicht nur in Berlin. „Später werden die Leute sagen: Das hat kein Schwein wahrgenommen – das ist aber das Geilste gewesen“, sagt Jochen Distelmeyer von Blumfeld, der als bekennender Mutter-Fan vor die Kamera tritt. Er hat vollkommen Recht: Mutter sind das Geilste. Die abgründigen Texte, Plattentitel wie „Ich schäme mich, Gedanken zu haben, die andere Menschen in ihrer Würde verletzen“, ein Sänger, der sich auf der Bühne auf dem Boden windet – und dazu diese stumpfe, empathiefreie, meist brutale Musik. Diese Band spielt in ihrer eigenen Liga.

Sie hat nie den Erfolg gesucht, hat immer genau das Gegenteil von dem gemacht, was von ihr erwartet wurde. Es gab da 1994 diese Platte, „Hauptsache Musik“, eine der fünf besten und wichtigsten deutschsprachigen Platten überhaupt, eine Akustikplatte von umwerfender Schönheit. Jörg Buttgereit, der als langjähriger Freund der Band in „Wir waren niemals hier“ immer wieder zu Wort kommt, berichtet, wie damals eigentlich alle dachten, jetzt ginge es so richtig los mit Mutter. Sie landeten auf dem Cover der Spex, die Weichen schienen in Richtung Erfolg gestellt. Doch wieder interessierte sich niemand – die Spex-Ausgabe soll „die am schlechtesten verkaufte aller Zeiten“ gewesen sein.

Es ist ein großes Glück, dass Antonia Ganz ausgerechnet diese Band porträtiert. Sie zeigt weder den Aufstieg noch das große Scheitern, sondern einfach nur eine Entwicklung: Wie aus der Band Camping Sex Mutter wurde. Wie man früher eine WG behauste, in der es aussah wie auf einer Müllkippe – Françoise Cactus berichtet, wie sie sich einmal auf das Bett von Max Müller gesetzt und das Weiche unter ihrem Po sich als Camembert entpuppt habe.

Antonia Ganz verknüpft Archivmaterial mit eigenen Aufnahmen und zeichnet so die Entwicklung dieser komischen Band, ihrer Mitglieder und nebenbei auch der Stadt Berlin und ihrer Szene nach. In dem Film geht es um – man muss es so sagen – Aufrichtigkeit, Selbstbestimmung, gesundes Neinsagen und darum, wie man in Würde als Band altern kann. Also um Dinge, die die Musikindustrie gerne per Gesetz verbieten lassen würde.

Mutter wollten nie von ihrer Musik leben, nie erfolgreich sein. Sie wissen, wie gut sie sind, aber wenn andere das nicht mitkriegen, ist das deren Problem. Antonia Ganz schafft es, einen Einblick in das soziale Gefüge dieser eigenwilligen Truppe zu liefern. Vier Eigenbrötler öffnen sich vor der Kamera, zeigen ihre Macken. Der Film zeichnet ein gelungenes Porträt und wird streckenweise zur psychologischen Studie. Er überhöht nichts, bastelt sich keine Mythen zurecht, sondern erzählt einfach.

Heute sitzt die Band auf einer Tour durch die Schweiz immer noch im Kleinbus, kann sich nicht einmal einen Fahrer leisten. Bei einem Clubkonzert sind gerade mal zwanzig Zuschauer eingetrudelt, um die weltberühmteste Band zu sehen, die doch kaum jemand kennt. Zwanzig seien doch genug, sagt die Band, die sich in dieser Tristesse wohl zu fühlen scheint. Und weil Mutter es selbst nie so sagen würden, müssen wir das tun: Die passend zum Filmstart erschienene Doppel-CD „Das ganze Spektrum des Nichts – ihre Musik von 1989 bis 2005“, die auf dem kleinen Label Enduro erschienen ist, braucht man unbedingt. ANDREAS HARTMANN

„Wir waren niemals hier“, Regie: Antonia Ganz. BRD 2005, 97 Min.Heute Abend spielen Mutter zur Präsentation des Films ein Akustik-Set: Neue Kant-Kinos, 20 Uhr