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Archiv-Artikel

Die übers Wasser gehen können

Von der Synthiepop-Band über die düstere Outlaw-Truppe an der Grenze zur Überdosis zum Großpop der Gegenwart: „Playing The Angel“ heißt das neue Album von Depeche Mode. Ein Porträt von Martin Gore, dem Mastermind der Band

Drogen? Manchmal ist es hilfreich, ein wenig Spannung um sich zu haben, um zu Höchstform aufzulaufen

VON MAX DAX

Die Pose wirkte wie die Karikatur eines Märtyrers, umbrandet wurde sie trotzdem oder gerade deswegen von Applaus: Dave Gahan, der Sänger von Depeche Mode, sinkt, streichholzdünn und von Tätowierungen übersäht, auf die Knie und breitet seine Arme aus, als wäre er der Heiland höchstpersönlich.

Sein Blick, gefilmt von einer Kamera und simultan übertragen auf 14 Videoleinwände, ist stechend und geht doch ins Leere. Dann erlischt das Licht, und abermals schwillt das Schreien der vielen zu einem Donnergrollen an. Gahans Botschaft bei seine Auftritten auf der „Devotional Tour“ von 1993 war ebenso egomanisch wie comichaft: In meinen Schuhen gehen zu wollen, ist eine Nummer zu groß für euch. Unausgesprochen zwar, aber für jeden hörbar, war der Nachsatz: Denn ich kann übers Wasser gehen. Es ist wirklich wahr. Die Textzeile lautet: „You’ll stumble in my footsteps / If you try walking in my shoes.“ Ein toller Song, natürlich, ohne den die Neunzigerjahre rückblickend nicht denkbar gewesen wären. Aber auch ein bezeichnender.

„Sicherlich haben wir uns auch schon über die biblischen Leidensposen unseres Sängers amüsiert“, erklärt der heute 45 Jahre alte Martin Lee Gore, seines Zeichens Komponist und Texter von Depeche Mode, an einem Herbstnachmittag in Berlin. Der Mann mit dem seit ehedem seltsamen Haarschnitt empfängt an diesem Tag einen Journalisten nach dem anderen – weil seine Band ein neues Album mit dem Titel „Playing The Angel“ (Mute/ Rough Trade) vollendet hat. Gore, der seine Fingernägel glänzend schwarz lackiert hat, sodass sie wie Fremdkörper an seiner Hand wirken, sitzt verloren auf einem Designsofa von Ludwig Mies van der Rohe. Mehr als die Hälfte seines Lebens ist er jetzt schon weltberühmt. Über 70 Millionen Platten haben Depeche Mode bis heute verkauft. Und Berühmtheit muss bestätigt werden. Folgerichtig residiert Gore in der dezent abgedunkelten, größten Präsidentensuite des Berliner Hyatt Hotels mit sage und schreibe 161 Quadratmeter Wohnfläche, moderner Kunst an den Wänden, eigenem Kaminzimmer und freistehendem Konzertflügel. Gore starrt in sein leeres Glas. „It’s empty!“, bemerkt er leise.

Seit 25 Jahren schreibt Gore jetzt Songs auf den geschundenen Leib seines Sängers. Ganz früher, vor 25 Jahren, handelte es sich tendenziell noch um vorstädtisches Balzgestammel („It’s getting hotter, it’s our burning love / I just can’t get enough“, „Just Can’t Get Enough“) mit bisweilen Andeutungen von Homoerotik (in dem Song „What’s Your Name“) und S/M-Sex („We like to play you see / A game with added reality / You treat me like a dog / Get me down on my knees“, „Master And Servant“).

Erst später spielte Gore mit knietiefer Gottesfurcht, indem er aus alten Blues-Schallplatten von Son House, Hank Williams, Blind Lemon Jefferson und Robert Johnson zu zitieren begann. Martin Gore ist stolz auf seine Sammlung alter Schellack-Blues-Singles vom Anfang des 20. Jahrhunderts, und nur folgerichtig begann die US-Presse Depeche Modes „rock edge and blues base“ (LA Daily News) schätzen zu lernen. Und natürlich wären Depeche Mode in den 25 Jahren, die es diese Band jetzt gibt, nie so weit gekommen, wenn Gore nicht clevererweise stets darauf bedacht gewesen wäre, dass sich seine Texte auch als ironische, nicht ernst gemeinte Einmessungen neurotischer Innenansichten der Bandmitglieder lesen ließen.

Wenn Gahan in „Personal Jesus“ „I will deliver / You know I’m a forgiver / Reach out and touch faith“ sang, dann bezog sich das auch auf Gahans Bühnenpersönlichkeit und vor allem erzählt der Song von der Einsamkeit eines Mannes in einem Hotelzimmer, der zum Telefonhörer greift, um eine Jesus-Hotline anzurufen.

Vielleicht wegen dieser Sollbruchstellen, die ja hintersinnig waren und codiert, fühlte sich Gahan, der kein Intellektueller ist, mit jedem Jahr, das verging, wohler in ihnen, bis er seinen Posen schließlich entsprach? „Vielleicht ist es tatsächlich so, dass ich unbewusst in den großen Geschichten wildere, weil die Reaktion unseres Publikums auf uns stets über die Maßen gewesen ist?“, reagiert Gore auf eine rhetorische Frage mit einer rhetorischen Frage, um sie erst dann mit einer weiteren Betrachtung zu beantworten: „Ich habe nie versucht, mich in Daves Innenleben hineinzuversetzen. Möglicherweise ist er selbst nicht in der Lage, zu erklären, was in ihm so vorgeht. Ich habe ihn auf alle Fälle nie begriffen.“

Das hätte fast verheerende Folgen gehabt: Am 8. Oktober 1993 kollabierte Gahan unter Drogeneinfluss während eines Konzerts in New Orleans vor 30.000 Zuschauern auf offener Bühne. Am 18. August 1995 scheiterte ein im Rotwein-Valium-Rausch begangener Selbstmordversuch zu Hause in West-Hollywood. Am 28. Mai 1996 schließlich erklärte Gahan der Presseagentur Reuters in der Lobby des Cedar Sinai Hospitals in Los Angeles, dass seine „neun Katzenleben jetzt aufgebraucht“ wären und er bereits seit etwa einem Jahrzehnt ein Junkieleben auf der Rasierklinge geführt habe. Die Beichte erfolgte nicht ganz freiwillig. Tags zuvor war Gahan ins Koma gefallen, nachdem er einen Speedball überdosierte – eine Mischung aus Crack, Heroin und Kokain –, um sich genau die Sorte von Kick zu geben, die selbst dann noch wirkt, wenn man sonst nichts mehr merkt.

So individualtragisch die von Neurosen und Depressionen befeuerten Wirklichkeitsfluchtversuche des wie seine Kompagnons aus Essex stammenden Sängers in den Neunzigerjahren waren – dem Ruf seiner Band taten die wiederholt angekündigten Rock-’n’-Roll-Tode keinen Schaden. Im Gegenteil: Ein herausragendes Album („Violator“, 1990) und einige sich zunehmend verdichtende Gerüchte um Gahans narkotische Tendenzen genügten seinerzeit, um aus einer Band, der immer noch ihr uncooles Synthiepop-Image der Frühachtziger anhaftete, eine glamouröse, todgeweihte Truppe zu formen. Eine Biker-Styles zitierende, den Medienbedürfnissen der Neunziger nach Heroin Chic perfekt entsprechende Gang of Outsiders, die sich anschickte, Jim Morrison und Kurt Cobain zu beerben. Doch die Nachrufe blieben auf den Festplatten.

„Playing The Angel“ ist nach dem majestätischen, von Mark Bell produzierten „Exciter“ von 2001, das bereits zweite offiziell drogenfreie Album der Band. Der Begriff stammt aus der Terminologie des Pokerspiels und ist ein anderes Wort für „Bluff“. Auf ihm nähert sich die Band formal wieder den perfekten Popminiaturen, die bereits vor 15 Jahren „Violator“ ausgezeichnet haben. Handwerklich solide, dem Primat der Melodien folgend und geschmackssicher ist die Musik für die Massen des Jahrgangs 2005. Aus dem Album ragen Songs wie „The Sinner In Me“ oder „I Want It All“ heraus, weil sie bei aller Affirmation die Nähe zur Elektronikavantgarde suchen. Andere Song wirken seltsam unfertig, etwa „Macro“ mit seinen ans Peinliche grenzende Zeilen, in denen Dave Gahan sein Seelenheil in verquaster Esoterik und unironischer Selbstüberschätzung sucht: „Whispering cosmos / Talking to me / Unlimited endless / God breathing through me“. Vor allem aber klingen die zwölf neuen Songs eingängig, formelhaft, man könnte auch sagen: wie schon einmal gehört.

Gore, der einmal während des Interviews anmerkt, dass ihm das Ginger Ale ausgegangen sei: „Ich weiß, es ist gefährlich, zu sagen oder auch nur zu denken, dass harte Drogen oder Alkohol dabei behilflich sein können, als Musiker große Musik zu erschaffen. Aber andererseits ist es so, dass ich aus heutiger Sicht sagen kann: Wir haben es – was immer ‚es‘ im Einzelnen gewesen ist – überlebt. Und ebenfalls ist richtig: Wir haben Musikgeschichte geschrieben. Manchmal ist es hilfreich, ein wenig Spannung um sich herum zu haben, um zu Höchstform aufzulaufen.“

Eine Spannung, die sich früher unter anderem im nur wenige hundert Meter Luftlinie von der Präsidentensuite entfernten Hansa-Tonstudio in der Berliner Köthener Straße entladen hat. Dort, by the wall, haben nicht nur David Bowie und Iggy Pop legendäre Platten, sondern auch Depeche Mode ihre wichtigen Alben „Some Great Reward“ (1984) und „Black Celebration“ (1986) aufgenommen. Diese zwei Alben stellten seinerzeit eine entscheidende Weichenstellung dar, mit der sich die Band von ihren noch früheren Werken abzusetzen begann – indem sie ausgerechnet die Einstürzenden Neubauten sampelten. Ein Ort wie Berlin mag Martin L. Gore daher vielleicht daran erinnern, dass Depeche Mode längst 25 Jahre auf dem Buckel haben. Mag ihn daran erinnern, dass seine Gruppe es geschafft hat, sowohl die Jahre zu überstehen, in denen Depeche Mode als ölglänzende Horizontgucker posierten, wie auch ein lebensmüdes Jahrzehnt voller Exzesse.

Heute lebt Gore mit seiner Familie am Strand von Santa Barbara in Kalifornien. Eine neue Tournee, auf der sich die Band mit den Versuchungen, aber auch den Bestätigungen, die das Superstartum mit sich bringt, erneut wird auseinander setzen können, beginnt am 2. November in Fort Lauderdale, USA. Nur New Orleans steht aus dem einen oder dem anderen Grund nicht mehr auf dem Programm.